Für heutige Wollishoferinnen und Wollishofer steht die neue Kirche auf einem Hügel. Aber schon das alte Kirchlein steht – von der Tramstation Post (Tschuldigung: Renggerstrasse) aus gesehen – in der Höhe. Von dieser Höhe hinab gibt es eine wunderschöne Aufnahme des entstehenden urbanen Wollishofens (vor1920).* Diese Ansicht von der Kirche hinab ist heute nicht häufig, sie wurde von der Firma Wehrli Kilchberg als Ansichtskarte produziert und verkauft. Eine Analyse dieser Ansicht erklärt das Werden des Stadtquartiers im entstehenden neuen Zentrum – zwischen Bahnhof und Morgental.
Blick vom Kirchenhügel gegen Norden, Albis- und Renggerstrasse.
Wehrli AG Kilchberg. Sammlung MZ. Gelaufen 21.8.1923.
Wir schauen vom Kirchlein hinab. Im Vordergrund mittig sieht man auf das heute noch bestehende Eckhaus Albisstrasse / Kilchbergsteig (chinesisches Restaurant Dragon Inn bzw. heute Yan-Ruyi). Dieses Haus zeigt das Dilemma des werdenden Stadtquartiers beispielhaft: Es vermeidet jeden Hinweis auf den bäuerlichen Charakter des damaligen Wollishofens, erinnert mit seinem französischen Mansardendach ans grossstädtische Paris des fin de siecle, gibt mit seinen Mini-Dimensionen aber zu, in der Provinz zu stehen: 1894 wurde das Haus als Kilchbergstrasse 1 erbaut (denn der heutige Kilchbergsteig war ursprünglich als Landstrasse die Kilchbergstrasse). Das Haus beherbergte lange Zeit das Restaurant Frohsinn (1902 war Elisabeth Biedermann Wirtin, 1909 führte eine Familie Planet das Haus); heute ist die Adresse Albisstrasse 19.
Restaurant Frohsinn. 1909. Postkarte. Baugeschichtliches Archiv Zürich.
Im Zentrum der Ansicht ist die Renggerstrasse: einmal die Blöcke südlich der Albisstrasse, Renggerstrasse 66-70, ganz wie wir sie heute noch kennen (aber von hinten), dann aber, ennet der Albisstrasse, führt die Renggerstrasse noch über freies Feld bzw. teils noch durch Reben hindurch. Links steht an der Albisstrasse allerdings schon der grosse ländlich wirkende Neubau Sonnental (Albisstrasse 20-26), der 1915 an die Stelle des alten (erbaut 1834 am Trassee der damals neu geplanten Albisstrasse) Doktorhauses Sonnental erstellt wurde: für «de Tokter Häiri Buume».
Doktorhaus Sonnental (Dr. Heinrich Baumann**). Erbaut 1834, abgerissen 1915.
Aus: Stauber Tafel 28.
Es gibt ein Foto, das ich allerdings nur im Gewerbebüchlein 1953 in kleinem Format gefunden habe, auf dem die Situation gezeigt wird: der neue Block Albisstrasse steht bereits, aber das alte Doktorhaus steht auch noch. Der neue Komplex wurde L-förmig um die alte Baute herum erstellt! (Aus dem Gewerbebüchlein 1953)
Neubau «zum Sonnental», Albisstrasse 20-26. Baujahr 1915.
Sammlung MZ. Gelaufen 11.08.1928.
Architekt des Neubaus «zum Sonnental» war übrigens «Oberst Ulrich», der Compagnon von Karl Moser beim Bau der Moserhäuser an der hinteren Rainstrasse (den wir schon im Blogbeitrag über die Moserhäuser vorgestellt haben). In einem Beitrag in der NZZ zu Ulrichs 70. Geburtstag wurde Paul Ulrichs Engagement «hauptsächlich im Wohnungsbau» betont; er habe «nach einer Epoche böser Verwilderung» durch seine «bodenständigen Mehrfamilien-Wohnhäuser» eine «wohltätige Reform» bewirkt. Dabei wurden die Häuser an der Albisstrasse als besonders gelungen und «heimelig» bezeichnet! (NZZ 17.6.1926)
Doch kehren wir zurück zur ersten Ansichtskarte oben mit Blick vom Kirchlein hinunter. Im Mittelgrund sehen wir links die ersten Ansätze zur Etzelstrasse: prominent mit Türmli: die Etzelstrasse 14, die 1955 dem Etzelgut weichen musste (dieser Neubau von damals ist heute schon wieder durch den Neubau Tertianum ersetzt). Weitere schöne Häuser an der Etzelstrasse sind die Nummern 27, 30 und 32.
Im Mittelgrund mittig erkennen wir unscharf das Haumesser-Quartier, rechts zahlreiche Bauten um den Bahnhof Wollishofen herum, insbesondere an der Seestrasse. Interessant, aber leider nur ungenau zu erkennen, sind die industriell mit Holzbauten genutzten Uferflächen zwischen Bahnhof und See. Diese wurden spätestens mit den Bauten für die Landesausstellung 1939 abgerissen und ersetzt. Rechts schliesst der See an.
Im Hintergrund meint man, man sei in den Niederlanden. Man sieht aber Umrisse der Stadt Zürich und den Waidberg. Eine stürmische Bewölkung wechselt sich mit sonnigen Wolkenlücken ab. Aber alles grau in grau.
Und zum Schluss noch dies: Eine Karte aus den 1930er Jahren, aufgenommen vom Simmlersteig 11 aus:
Ansichtskarte Wollishofen, Albisstrasse mit Ziegelhütte und See im Hintergrund.
Sammlung MZ. Gelaufen am 19.5.1933 (Jahrzahl unsicher).
(SB)
* PS: Ich wurde darauf aufmerksam gemacht, dass zur Zeit des 1. Weltkrieges der Turm der alten Kirche teilweise eingerüstet war; es ist sehr wahrscheinlich, dass das Foto auf der Ansichtskarte von diesem Turmgerüst hinunter aufgenommen wurde. Hier noch der Beleg:
Wollishofen während des 1. Weltkrieges. Blick von der Rainstrasse zum See, der Kirchturm ist eingerüstet, im Vordergrund noch der klassische Wollishofer Rebberg. Um 1916. Ausschnitt aus Privatbesitz.
** Dr. Heinrich Baumann, gebürtig von Wollishofen, heiratete am 6. Mai 1834 Jgfr. Catharina Meyer aus der Enge und gründete damit den eigenen Haushalt – eben im neuerbauten Arzthaus an der neu entstandenen Albisstrasse.
コメント