Eigentlich geht es in unserem Blog ja um Ansichtskarten von Wollishofen, um deren Geschichte, und vor allem um die Geschichte Wollishofens, die aus den Ansichtskarten abgelesen werden kann. SCHÖNE BRIEFE legt den Schwerpunkt für einmal etwas anders, indem wir drei gelaufene Briefcouverts anschauen und analysieren. Das hat zwei Gründe: zum einen sind die Briefcouverts mit den alten Anschriften und den Briefmarken einfach schön, und zum anderen will ich versuchen, ein bisschen hinter die Couverts zu blicken. Das obwohl in allen Fällen nur die Couverts – keine Briefe als Inhalt – auf uns gekommen sind.
Baumeister Staub
Der erste Brief stammt noch aus dem tiefen 19. Jahrhundert. Gestempelt ist er am 26. Oktober 1870, adressiert an Herrn Baumeister Staub, Wollishofen. Wo der Baumeister in Wollishofen zu finden war, ist nicht Teil der Adresse. Und auch der Vorname fehlt, was die Sache unsicher macht. Denn es gab häufig Brüder, oder Cousins, die den gleichen Beruf hatten, die oft auch die Geschäfte gemeinsam führten. Doch das dürfte damals in Wollishofen bekannt gewesen sein, der Brief hat den Adressaten sicher erreicht: die Staubs wohnten im Hof Honrain bzw. im klassizistischen Kubus daneben (heute Seestrasse 279). Der Brief wurde in Zürich aufgegeben, und erreichte gleichentags Wollishofen.
Briefcouvert an Baumeister Staub in Wollishofen. Sammlung MZ. Gelaufen am 26.10.1870.
Sehr wahrscheinlich war er an Jakob Staub gerichtet, nach dem die Staubstrasse fast 40 Jahre später benannt wurde (1908). Es ist die steile Verbindungsstrasse vom Bahnhof her über die erste Kuppe zur Mutschelle hoch. Jakob Staub (1837-1892) war Sohn eines Maurers, der zum Baumeister aufstieg; auch der Sohn war als Baumeister tätig. Er war von 1868 bis 1877 Gemeindepräsident. Er hatte neben dem Wollishofer Bürgerrecht auch dasjenige der Stadt (man konsultiere den Blog VOM HOF ZUM HORN).
Jakob Staub, 1837-1892, Baumeister, Gemeindepräsident und Kantonsrat.
Aus: Zürcher Chronik 1906.
Frau Hirzel von Schwerzenbach
Der zweite Brief ist ebenfalls noch zu Zeiten der eigenständigen Gemeinde gelaufen; der Poststempel datiert vom 5. Juni 1878. Wollishofen ist noch die Bauerngemeinde vor den Toren der Stadt. Der Brief ist an «Frau Hirzel von Schwerzenbach, wohnhaft bei Herrn Mobilienhändler Ochsner in Wollishofen» adressiert. Wer Frau Hirzel war, scheint schwer zu eruieren. Die Familie Hirzel ist eine alte Stadtzürcher Familie, weitverzweigt, und ohne Vornamen ist eine Identifizierung schwierig. Aufhorchen lässt lediglich die zusätzliche Bezeichnung «von Schwerzenbach». Das irritiert. Was soll Frau Hirzel in Schwerzenbach gemacht haben, das zu ihrer Identifizierung hilft? Aber: Man muss wissen: «von Schwerzenbach» war im Alten Zürich eine ursprünglich «adeliche», aber ratsfähige Familie. Wenn man das weiss, findet man relativ schnell die Lösung. Adressatin unseres Briefes war «Maria Elisa von Schwerzenbach», die 1848 den Kaufmann Hans Conrad Hirzel ehelichte. Er war einiges älter als sie (sein Geburtsjahr war 1789, das ihrige 1808). Für ihn war es die zweite Ehe; er starb 1857. Sie überlebte ihn 35 Jahre; als sie 1892 starb, hinterliess sie ein Legat, aus dem später das Blindenheim Regensberg gestiftet werden konnte.
Briefcouvert 1878. Adressat in Wollishofen. Sammlung MZ. Gelaufen am 5.6.1878.
Ebenfalls nicht so einfach ist die Auflösung, um wen es sich beim «Mobilienhändler Ochsner» handeln könnte. Diesen finden wir zwar nicht im Adressbuch der Stadt Zürich, wohnhaft in Wollishofen – 1878 gehörte Wollishofen definitiv noch nicht zur Stadt; Wollishofer waren nur dann vermerkt, wenn sie als Stadtbürger in Wollishofen wohnten – unabhängig davon, wo der erste Wohnsitz war. 1878 finden wir indessen einen «J. R. Ochsner» im Adressbuch, der im «Tiefenhof», also beim Paradeplatz, ein «Möbel-Magazin» führte. In einer separaten Werbung (gelbe Seiten) preist Ochsner sein Geschäft an: «Grosse Auswahl für ganze Einrichtungen in Nussbaum-, Eichen-, Mahagoni- und Palisanderholz gearbeitet», und er macht noch den Zusatz: «auch in andern Holzarten vom feinsten bis zum ordinärsten Möbel»!
Die Tiefenhöfe (oder, wie man damals offenbar sagte: der Tiefenhof) waren 1878 sozusagen noch am Rande der Stadt, zwar waren die Stadtmauern längst geschleift, das Wollishofer Pförtli weg, aber dennoch spürte man noch den Ausgang aus der Stadt Richtung Enge und Wollishofen. Gut möglich also, dass Herr Ochsner sein Geschäft am Paradeplatz führte, aber in Wollishofen wohnte. Und in Wollishofen wohl auch Freunde beherbergte oder Untermieter hatte, so eben Frau Hirzel-von Schwerzenbach!
Über den Absender wissen wir leider fast gar nichts, er gab seinen Brief in Zürich auf die Post, wohnte also wohl in Zürich. Das war's...
Pro Juventute
Der dritte Brief erzählt uns eine andere Geschichte. Zunächst zum Zeitpunkt. 1913, kurz vor dem ersten Weltkrieg, Ende des Jahres, am 31. Dezember in Männedorf aufgegeben. Es knisterte damals bereits im weltpolitischen Gebälk, wenn auch ein Krieg selber noch nicht direkt absehbar war. Noch lag das Attentat auf den oesterreichisch-ungarischen Thronfolger in Sarajevo in der Zukunft, doch die beiden konkurrierenden Allianzen – Deutschland, Oesterreich-Ungarn und Italien auf der einen, Frankreich, England und Russland auf der andern Seite – waren bereits geschmiedet. Der Brief war mit grösster Wahrscheinlichkeit mit einer Neujahrskarte gefüllt. Er stammte aus dem familiären Bereich: von Männedorf stammt die Familie Billeter seit Jahrhunderten, auch die Wollishofer Familie dürfte aus Männedorf zugewandert sein. (Und auch die Schaufelberger, der Name der Ehefrau, stammt nicht von der linken Seeseite, sondern vom Zürcher Oberland.)
Briefcouvert 1913. Adressat in Wollishofen. Sammlung MZ. Gelaufen am 31.12.1913.
Wo sollte der Brief hin in Wollishofen? Als Adresse ist nur «Seestrasse» angegeben. Das ist 1913 etwas dürftig – ich hoffe, der Postbote habe die lange Seestrasse gut gekannt. Aus dem Adressbuch der Stadt Zürich – Wollishofen gehörte unterdessen eindeutig zur Stadt – erfahren wir, dass es zwei Billeters an der Seestrasse gab: Robert Ernst wohnte in Nummer 374 und war «Commis», Karl, Lehrer, in Nummer 444. An welchen dieser beiden Herren war der Brief gerichtet? Auflösung des Rätsels bringt eine Bestattungsanzeige sechs Jahre später: Am 24. Februar erfährt die Öffentlichkeit, dass «Karl Billeter, alt Lehrer, von Zürich, Gatte der Frida geb. Schaufelberger, seines Alters 70 Jahre» gestorben sei. Adressat der schönen Neujahrspost war also die Familie des Lehrers Karl Billeter. – Heute gibt es keine Seestrasse 444 mehr, sie lag vis-à-vis der Badi Wollishofen, aber bergseitig, und ist wegen der Bedürfnisse der Eisenbahn verschwunden.
Von besonderem Interesse ist für einmal auch das Postwertzeichen. Es ist eine Marke von Pro Juventute, für fünf Rappen! Die Organisation Pro Juventute war 1913 noch sehr jung – 1912 war sie gegründet worden. Die Idee mit den Marken wurde von Beginn weg verfolgt, zuerst als «Zusatzmarke», ohne Frankaturwert. Diese war neben der normalen Marke auf das Couvert oder die Karte zu kleben. Der Kaufpreis war 10 Rappen, der den guten Zwecken von PJ zugutekam. Erst 1913 wurde die erste offizielle Pro Juventute Marke als Frankaturmarke à 5 Rappen herausgegeben – wie auf unserem Couvert vorliegend. Die Familie Billeter bekam also eine Pioniermarke einer Pionierorganisation – zusätzlich zur angenommenen Neujahrskarte im Innern des Briefes. Ob sich Lehrer Billeter dieser Besonderheit bewusst war, und das Couvert aufbewahrte – und damit ermöglichte, dass wir uns heute über dieses Kleinod freuen können?
(SB)
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