Bis um 1800 war die Stadt Zürich auf das Gebiet der heutigen Altstadt beschränkt. Zwar gab es «Vorstädte», so zum Beispiel beim Stadelhofen, beim Paradeplatz (Tiefenhöfe) oder im Talacker. Dennoch wuchs die Stadt erst nach Schleifung der Schanzen und nach Zuschüttung der Gräben – aus dem Fröschengraben wurde bekanntlich die Bahnhofstrasse – über die alten Grenzen hinaus. Die anfangs des 19. Jahrhunderts neu geschaffenen «politischen Gemeinden» vor den Toren der Stadt wuchsen aber auch, vor allem seit den 1830er Jahren. Der Bahnbau und die fortschreitende Industrialisierung liessen Vorortsgemeinden wie Aussersihl regelrecht explodieren – die dadurch nötigen Infrastrukturen überforderten einige der Gemeinden aber bald. Am prekärsten war die Lage in Aussersihl. Verbesserung erhoffte man sich von einer Eingemeindung, weshalb Aussersihl im Jahre 1885 ein Gesuch an den Kantonsrat richtete mit dem Wunsch: Verschmelzung mit Zürich.
Das Aussersihler Gesuch löste eine grossflächige Projektarbeit unter der Federführung des Kantons aus. Diese Arbeit mündete in eine Vorlage des Regierungsrates an den Kantonsrat: Der Antrag lautete, elf Vorortsgemeinden mittels Eingemeindung in Zürich zu einem «Gross-Zürich» zu «vereinigen». Der Kantonsrat stimmte der Vorlage zu, das obligatorische Gesetzesreferendum unterbreitete sie dem Zürcher Stimmvolk.
In dieser Abstimmung im Jahre 1891 stimmten die direkt betroffenen Gemeinden, die Stadt Zürich selber sowie die elf Vorortsgemeinden, mehrheitlich zu. Zwei Gemeinden lehnten aber ab: die Enge zwar nur knapp (mit 453 Nein zu 448 Ja), Wollishofen aber massiv (256 Nein zu 124 Ja). In der Stadt selber erfuhr die Vorlage mit 2535 Ja gegenüber 1731 Nein eine relativ deutliche Zustimmung. Die übrigen Vorortsgemeinden stimmten ebenfalls zu mit unterschiedlichen Mehrheiten, am deutlichsten sagte Aussersihl Ja (4440 Ja gegen 43 Nein).
Gegen den eigenen Willen eingemeindet
Das führt zur Frage: Wie konnte es dazu kommen, dass eine direkt betroffene Gemeinde sich in der Abstimmung gegen das Projekt aussprach? Die Antwort ist einfach: Es gab vorgängig keine lokale Abstimmung in den betroffenen Gemeinden, auch keine konsultative. Der Kanton fühlte sich durch die Bittschrift Aussersihls angesprochen, er hatte die Federführung betreffend Erarbeitung von Vorschlägen, er redigierte die Vorlage, die just 11 Gemeinden ins Projekt involvierte. Nicht dass der Kanton sich die Sache leicht gemacht hätte: Im Vorfeld wurden wissenschaftlich anmutende Untersuchungen durchgeführt, die in einem Bericht mit dem Titel mündeten: «52 Grundfragen hinsichtlich der verschiedenen Verhältnisse in der Stadt und den Ausgemeinden mit Rücksicht auf die Stadtvereinigung». Durch diese «wissenschaftliche» Bearbeitung fühlte sich der Kanton dann offensichtlich legitimiert, den Perimeter des Geschäfts selber festzulegen, ohne Konsultation der Gemeinden.
Kantonsratsprotokoll vom 2. Februar 1891, Titel und Präsenz. Staatsarchiv Zürich.
Politisch war das Projekt durchaus umstritten. Nicht nur wegen der Haltung von Wollishofen, auch in der Stadt gab es Gegnerschaft. Und auch auf der Zürcher Landschaft gab es viele Stimmen, die die Eingemeindung bekämpften, weil sie eine Dominanz der Stadt über das Land befürchteten. Im Kantonsrat wurde das Geschäft zuerst normal traktandiert, wurde dann aber auf eine Sondersitzung am 2. Februar 1891 angesetzt. Das Protokoll beginnt mit: «Montag den 2. Februar 1891, 19te Sitzung. Vorsitzender Herr Oberstleutn. J. Wirz. Die heute beginnende ausserordentliche Session wird mit dem Gebet eröffnet. Es haben sechszehn Mitglieder ihre Abwesenheit entschuldigt. Unentschuldigt abwesend sind vier Mitglieder.»
Die heute beginnende ausserordentliche Session wird mit dem Gebet eröffnet.
Das Geschäft war auch im Parlament umstritten, es wurde kontrovers diskutiert. Es dauerte, bis die Grundsätze und alle einzelnen Bestimmungen unter Dach und Fach waren. Erst im Mai konnten die Beratungen abgeschlossen werden. Die Position Wollishofens war unterdessen klar: nicht nur hatte der Gemeinderat dem Kantonsrat eine Petition bzw. einen «Protest gegen ihre Einbeziehung in die Vereinigung» zugesandt, auch in der Debatte wurde die Haltung der Seegemeinde deutlich gemacht. Der Rat entschied also im Wissen um die Haltung der Gemeinde Wollishofen. Und doch segnete er den «Gesetzesentwurf betreffend die Vereinigung der Stadt Zürich und der Ausgemeinden» in der finalen Abstimmung am 11. Mai ab. Und in der Volksabstimmung anfangs August fand das Gesetz schliesslich eine relativ deutliche Mehrheit. Natürlich galten nicht die Resultate der einzelnen Gemeinden, sondern – wie in einer kantonalen Vorlage selbstverständlich richtig – das kantonale Resultat.
Wollishofen gab nach verlorener Abstimmung nicht auf – wenn auch die entscheidende Gemeindeversammlung nur mit knapper Mehrheit für eine Beschwerde an Bundesgericht eintrat (siehe folgenden Bericht der NZZ vom 14. September 1891). Doch auch hier galt: Die Mehrheit hat Recht. Und so schickte Wollishofen eine staatsrechtliche Beschwerde nach Lausanne. Das höchste Schweizer Gericht schützte in der Folge das kantonale Vorgehen und wies die Beschwerde ab. Wenn es nach dem Zürcher Regierungsrat gegangen wäre, hätte Wollishofen für das Wahrnehmen seines Rechts auf staatsrechtliche Überprüfung sogar bestraft werden sollen; er bezichtigte die Gemeinde der «Trölerei». Soweit ging das Bundesgericht nicht, aber dennoch war dessen Urteil für Wollishofen eine schmerzliche Niederlage; die von der Mehrheit gewünschte kommunale Selbständigkeit musste aufgegeben werden.
Neue Zürcher Zeitung vom 15. September 1891. Ausschnitt S. 2.
Bis heute beurteilen Historiker*innen die Auseinandersetzung unterschiedlich. So schrieb Jakob Knecht 1951: «Wollishofen war damals noch eine durchaus ländliche Gemeinde. Es sah nicht ein, warum es mit der Stadt vereinigt werden sollte.» Dagegen meint das Historische Lexikon lapidar: «In der kantonalen Volksabstimmung von 1891 lehnte Wollishofen als reiche Vorortsgemeinde die Vereinigung mit der Stadt Zürich mit 66% Neinstimmen ab, während der Kanton die Vorlage annahm», womit angedeutet wird, die Gemeinde habe die Eingemeindung allein aus finanziellen Gründen abgelehnt. Wer Recht hat, ist schwer zu entscheiden. Demokratische Entscheide müssen bekanntlich nicht begründet werden – es gilt die Mehrheit.
Demokratiedefizit
Das Demokratiedefizit des damaligen Vorgehens ist aber nicht zu leugnen. Die (spätere) Geschichte hat deshalb der Wollishofer Kritik letztlich Recht gegeben, indem das seinerzeit vom Kanton angewandte Verfahren keine Anwendung mehr fand. Zwangsvereinigungen haben heute – nicht nur in Zürich – politisch keine Chance mehr.
(SB)
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