Am 29. Dezember 1977 erschien im Walliser Bote eine kleine Notiz. Es handelte sich um Spenden für Bergkapellen in der Gommer Gemeinde Oberwald. Ein Unterländer aus dem Totenreich habe seine Freunde dazu aufgerufen, in diesem Sinne Gutes zu tun. Der Aufruf war jedoch nicht nur einfach eine politische Äusserung, sondern die Abschlussbemerkung einer Todesanzeige! Zwar schrieb der Journalist: «Es ist keine Seltenheit, dass man in Todesanzeigen den Wunsch liest, man möge anstelle von Blumen- und Kranzspenden einer wohltätigen Institution oder eines Gotteshauses gedenken.» Der am Weihnachtstag verstorbene Max Edwin Bircher-Müller wollte jedenfalls keine Blumen, er wollte die drei Kapellen jenes Orts erhalten, wo er 20 Jahre zuvor ein Haus gekauft und wo er und seine Familie seither schöne Stunden und Tage verbracht hatten. Weiter meinte der Schreiber: «Es ist sicher ein besonderes Zeichen der Dankbarkeit an eine liebgewordene Landschaft, wenn man ihr auch über das Grab hinaus die Treue hält.» Und als Katholik, der dem zwinglianischen Zürich wohl mit Skepsis gegenüberstand, fügte er dazu, dass so für Bircher an den Trauerfeierlichkeiten am morgigen Freitag in der reformierten Kirche Wollishofen «auch ein Zeichen der Oekumene» gesetzt werde.
Ein Wollishofer Arzt: Max Edwin Bircher
Alte Wollishofer mögen sich an Dr. med. Max Edwin Bircher erinnern. Er praktizierte zwar in der Enge, doch seine Wohnstätte war die Frohalpstrasse 48 in Wollishofen. 1895 geboren, studierte er Medizin und heiratete 1923 eine mit Wollishofen vertraute Psychologin: Martha Müller war bei Studienbeginn an der Kilchbergstrasse 125 gemeldet. Bircher-Müller liess sich 1933 ein Haus an der Frohalpstrasse bauen – es ist heute bereits wieder Geschichte, indem es 1982 abgerissen und durch ein grosses Mehrfamilienhaus, jüngst renoviert, ersetzt wurde. So weit so gut. Doch weshalb genügte dieser kurze Lebenslauf, der eine klare Verbindung zu Wollishofen zeigt, dem Autor dieser Zeilen nicht? Weshalb forschte er weiter?

Frohalpstrasse 48. Eigenheim von Dr. med. Max Edwin Bircher-Müller. Baujahr 1933. Aufnahme 1980. Baugeschichtliches Archiv Zürich.
Es war eine zweite Todesanzeige in der NZZ. Der Verstorbene selber gab sie in Auftrag, und sie richtete sich direkt an die Leserschaft. Nicht nur sollte man für Oberwald spenden, vielmehr erhielt man folgende Erklärung: «Aus einem besonderen Grund möchte ich, Max Edwin Bircher, Arzt, meinen heute erfolgten Tod selbst bekanntgeben, da mir dieses einmalige Ereignis die seltene Gelegenheit gibt, all denen, die meinen Lebensweg durch Erziehung, Vorbild, Belehrung, Kritik, vor allem aber auch durch nie nachlassende Liebe und Treue reich und glücklich gestaltet haben, noch einmal aus dem vollen Ernst der Stunde heraus zu danken. Denn mit dieser Empfindung habe ich Abschied genommen. Sie hat mich mit einer solchen Freude erfüllt, dass ich alle darum bitte, mir nicht nachzutrauern, sondern sich mit mir zu freuen und mit gleicher Zuversicht und Gelassenheit weiterzugeben, um des grossen, dem Menschen versprochenen Segens teilhaftig zu werden.»

aus: NZZ 28.12.1977
Ein wahrhaft starkes Zeichen, eine seltene Mischung von Ernsthaftigkeit und Witz, eine imposante Person. Nun erst ging ich auf die Suche nach dem Menschen, und fand Erstaunliches. Max Edwin Bircher war der älteste Sohn von Max Oskar Bircher und Ehefrau Betty, geb. Benner. Das erinnerte mich an Albert Wirz, den Historiker und frühen Redaktor des Tages-Anzeiger-Magazins, der ein Buch über das Birchermüesli und seinen Erfinder geschrieben hat (und selber – leider – kurze Zeit später verstarb): Die Moral auf dem Teller.* Um Vater und Sohn auf die Schliche zu kommen, nahm ich also das Buch von Wirz zur Hand und wurde fündig.
Im Banne des Vaters: Max Bircher-Benner
Max Edwin war der väterliche Beruf seit seiner Geburt vorbestimmt. Nicht nur ihm als ältestem. Von den 7 Kindern der Bircher-Benner-Familie wurden die ersten drei Ärzte, neben Max E. die Brüder Franklin und Willy. Die Ehefrau Betty, die drei heranwachsenden Ärzte sowie auch die Tochter Ruth (die einen Chemie-Ingenieur heiratete) blieben dem väterlichen Betrieb, dem Sanatorium «Lebendige Kraft» an der Keltenstrasse in Fluntern verbunden, und auch Ralph, der Journalist wurde, war publizistisch für den Vater unterwegs. Doch die väterliche Autorität, die fachlich so viel bewirkte, war in der Familie nicht nur von Gutem. Das musste gerade der Älteste stark erfahren. Ihm wurde sozusagen die Liebe gekündigt, nachdem er gegen den Willen des väterlichen Arztes eine Blinddarm-Entzündung schulmedizinisch operieren liess (Wirz, S. 125). Der Vater überging den Anspruch des Ältesten auf seine Nachfolge und setzte 1929 bei seinem Rückzug von der Leitung des Sanatoriums Franklin und Willy als Führungsduo ein. Damals war Max Edwin allerdings bereits unabhängig von der väterlichen Klinik, er hatte er sich schon früher selbständig gemacht als Arzt der Inneren Medizin.

Max Edwin Bircher-Müller
Foto: Tat, 13.1.1975.
Nach dem Tode des Vaters 1939 könnte sich das Verhältnis zur Familie, zum «Clan» (Wirz) wieder gebessert haben. Jedenfalls wurde die Ehefrau Martha Bircher-Müller aus Wollishofen kurz darauf für den verstorbenen Schwiegervater publizistisch tätig. In Bircher-Benners Heiltheorie spielte die Ernährung bekanntlich eine grosse Rolle, weshalb in seinem «Labor» an der Keltenstrasse manches gesunde Kochrezept entstand. Seine Schwestern Alice und Berta veröffentlichten erste Rezeptsammlungen – eine Tradition, die Martha Bircher-Müller (mindestens für eine gewisse Zeit) weiterführte. So entstanden zwei Veröffentlichungen, die erste 1944 im hauseigenen Wendepunkt-Verlag: Sparkochbuch – eine Ergänzung zum Wendepunkt-Kochbuch für Notzeiten, und 1948 «Das kleine Bircher-Kochbuch. 200 fleischlose Rezepte für die Jetztzeit» – allerdings im Linck-Verlag München (nicht mehr im betriebseigenen Verlag – ein Zeichen für neue Zerwürfnisse?).
In den Neuen Zürcher Nachrichten erschien im Mai 1945 ein Hinweis auf Marthas erstes Buch. In der Rubrik «Ecke der Hausfrau» heisst es da: «Ein neues Spar-Kochbuch unter Berücksichtigung der heutigen knappen Versorgungslage und nach den vegetarischen Prinzipien von Dr. Bircher stellte Frau Martha Bircher-Müller zusammen: es enthält über 200 neuerprobte Rezepte für Suppen, Gemüse, Rohspeisen. Kartoffeln und Süßspeisen (Wendepunkt Verlag Zürich).»
Spätere Ergänzungen, Überarbeitungen und neue Publikationen stammten dann von Ruth Kunz-Bircher und von Ralph Bircher.

NZN 24.5.1945.
Das Schicksal der Bircher-Benner-Klinik soll hier nicht weiter aufgerollt werden, wohl aber noch ein paar Gedanken zum weiteren Schicksal von Sohn Max Edwin. Was genau die väterliche Kränkung und die mentale Trennung von ihm auslöste, und wie der Sohn es verarbeitete, weiss ich nicht. Aber klar ist: der Sohn machte seinen Weg. Nach seinem Medizinstudium absolvierte er zwei wichtige ausländische Weiterbildungen: Er machte als erster Schweizer am Mayo University Hospital in Irland eine Ausbildung in biochemischer Diagnostik und an der Kellag-Klinik in Klagenfurt eine solche in biologischer Therapie. Nachdem er in Zürich dann in der Enge, am Bleicherweg, eine Praxis als FMH-Spezialarzt für innere Medizin eröffnet hatte, gründete er 1948 sogar eine eigene kleine Spezialklinik am Zugersee. Zudem war er als Konsiliarius an verschiedenen Sanatorien tätig. Er war weiterhin wissenschaftlich aktiv, veröffentlichte zahlreiche medizinische Abhandlungen, war Mitbegründer der Monatsschrift «Der Wendepunkt» und schrieb ein Buch über «Erkennen und Gesunden» sowie ein zweites: «Meditationen über die Heilung».
Von seinen fünf Kindern verstarben zwei leider früh, drei wurden erwachsen und bildeten neue Familien – Max Edwin konnte sich an zahlreichen Enkelinnen und Enkeln erfreuen. Seine Frau verstarb 1974, er, wie erwähnt, im Dezember 1977. Obwohl sein Haus an der Frohalpstrasse nicht mehr steht, könnte eine Erinnerung an ihn in Form einer kleinen Tafel am heutigen Haus Nummer 48 den Blick in jene Zeit erleichtern, als das Birchermüesli erfunden und ein Bircher-Arzt in Wollishofen wohnte.
Sebastian Brändli
* Nach wie vor sehr lesenswert: Albert Wirz. Die Moral auf dem Teller. Zürich 1993.
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