WOLLISHOFER SEIDENGESCHICHTE
- Sebastian Brändli

- vor 3 Tagen
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Aktualisiert: vor 12 Minuten
Zürich und die Seide – eine Liebesbeziehung? Auf jeden Fall: eine mehrhundertjährige Geschichte. Nicht erst mit dem Gotthard-Tunnel seit 1882: Schon im Mittelalter profitierte Zürich – wie Venedig und Augsburg – vom Fernhandel, von der geographischen Position an einer Alpentransversale. Dabei war es nicht einfach nur Handel, der Gewinn abwarf, sondern es erfolgte auch Anregung zu wirtschaftlicher Entwicklung, insbesondere zu Industrialisierung, vor allem mit «fremden» Materialien. Und das auch schon früh: die ersten Textilgeschäfte für Leinen und Wolle finden sich bereits im 13. Jahrhundert! Und schon im ersten Geschworenenbrief, der Zürcher Verfassung von 1336, werden die Weber zünftig, die «Linin Weber» in der einen, die «Wollin Weber» in einer anderen Zunft. Beide durften «ein Zunft und ein Banner» haben. Doch wichtiger als die heimischen Rohstoffe Schafwolle und Flachs wurden jene aus fremden Landen, die höhere und andere Qualitäten versprachen: Baumwolle, und vor allem Seide.
Die Seide stammt bekanntlich aus China, woher bereits die Römer kostbare Stoffe und Tücher importierten. Die Herstellung der Seide in China wurde aber geheim gehalten, vor allem durfte die Seidenraupe nicht exportiert werden. Erst im 6. Jahrhundert gelang es offenbar, das nötige Wissen und die Materialien nach Byzanz zu bringen, um eine eigene Produktion im Westen zu beginnen. Zuerst in Byzanz und Persien, dann übers Mittelmehr nach Italien, gelangte Seide schliesslich in verschiedenen Formen über die Alpen. In der frühen Neuzeit gelang es Zürich, sich als ein frühes Zentrum der Seide nördlich der Alpen zu etablieren. Zunächst in der Stadt, dann mehr und mehr im Verbund mit der Landschaft wurden Produktionsstrukturen aufgebaut; vor allem dort, wo die Textilindustrie schon Fuss gefasst hatte, wo die protoindustrielle Baumwollproduktion schon erfolgreich eingeführt war, gelang es oft auch, die anspruchsvollere Seide einzuführen, zu produzieren und zu verarbeiten. Dabei spielten die «locarnesischen Glaubensflüchtlinge» – reformierte Lombarden, die nach Zürich gekommen waren – eine wichtige Rolle.

Zürcher Seide aus dem Hause Schwarzenbach.
Still aus dem SRF-Film von Helen Stehli. 2024.
Wann und wie in Wollishofen die Seidenproduktion begann, ist nicht genau zu bestimmen.* Das haben wir schon im Blogbeitrag über Seide und Mode feststellen müssen. Es ist davon auszugehen, dass die Anfänge in der Stadt selber lagen. Ihre Bürger hatten qua Zürcher Verfassung zünftische Wirtschaftsrechte. Wegen der vormals aber unbekannten Materialien war das Seidengeschäft ausserhalb der Zunftordnung, also vergleichsweise frei. Die Landschaft, wozu Wollishofen gehörte, hatte aber keine diesbezüglichen eigenständigen Rechte. Ein Gerichtsfall 1680 zeigt allerdings, dass schon Ende des 17. Jahrhunderts auch in Wollishofen Aktivitäten für eine erfolgreiche Seidenindustrie bestanden hatte: Ein «Ehepaar Bleuler» wurde nämlich überführt, sog. Buratseide bei sich selber hergestellt und auch als Verleger heimindustriell produziert zu haben, was sie eben als Untertanen nicht in eigener Regie hätten tun dürfen. Während des ganzen 18. Jahrhunderts wurden mehr und mehr in den stadtnahen Gemeinden in unterschiedlichen Organisationsformen Versuche gemacht, an den obrigkeitlichen Verboten vorbei wirtschaftliche Strukturen zu schaffen – meist in Verbindung mit kooperationswilligen Stadtbürgern –, damit auch das Potenzial der Landschaft fürs lukrative Seidengeschäft genutzt werden konnte.
Bekannt ist, dass die Familie Honegger, die sich um 1680 von Rüti her in Wollishofen einbürgerte, schon um 1750 als Verlegerin im Seidengeschäft tätig war. Wer genau die Stadtpartner der Honegger waren, ist leider nicht bekannt. Emil Stauber schreibt in seiner Ortsgeschichte, Wilhelm Honegger habe in seinem «1769 erstellten Hause an der Landstrasse in Erdbrust [spätere Kilchbergstrasse 58] die Seidenindustrie eingeführt» (S. 42). Doch es ist anzunehmen, dass schon vorher mancherorts Seide in Heimarbeit, also in den Privatstuben Wollishofens, gesponnen und gewoben wurde. Insbesondere jene Familie Weber, die von Küsnacht bzw. vom Balgrist her nach Wollishofen kam, brachte bereits eine Seidentradition mit und dürfte über diesbezügliche Stadtbeziehungen verfügt haben. Konkret heiratete Johannes Weber (1698-1751) im Jahre 1717 in den Hof Honrain ein, indem er die Tochter des Besitzers, Rudolf Fügli, ehelichte.
Die Weber im Balgrist waren bereits um 1700 eine äusserst aktive Seidentragerfamilie. Ueli Pfister hat in seinem Werk über die «Zürcher Fabriquen» die komplexen Strategien analysiert, mit denen sie versuchten, mittels Kombi-Firmen (Stadt-Land) und infrastrukturellen Innovationen (Bau von Manufakturen, sog. «Webstuben») sich im Seidengeschäft einzunisten, und kommt zum Schluss: «Am umfangreichsten und am wichtigsten unter den protoindustriellen Fabrikationsunternehmen der Landschaft ist zweifellos der Firmen- und Verwandtschaftskomplex der bereits erwähnten Weber aus dem Balgrist (Kirchgemeinde Kreuz) und der Notz in Fluntern. Hier finden sich Unternehmen, die an Kapitalausstattung und Umfang der Aktivitäten den Geschäften der Stadtbürger kaum nachstanden – kein Wunder angesichts der Tatsache, dass sie ihre Existenz der Auslagerung der kapitalintensivsten und am meisten Wissen erfordernden Produktionssparte des ausgehenden 17. Jh. zu verdanken haben.» (S. 243)
Doch wir wissen nicht, ob sich auch der Wollishofer Familienzweig, konkret Johannes Weber oder sein Sohn Johannes (1718-1791), am Geschäft beteiligte, und so Wollishofen in diesen Erwerbszweig integriert wurde. Vom Vermögen und vom persönlichen Status her – Sohn Johannes wurde als Untervogt sogar höchster Wollishofer – wäre das nicht unplausibel. Zudem waren seine Beziehungen zur Stadt und zu städtischen Familien zweifellos eng. Und sicher ist auch, dass nach seinem Tod sein Sohn Caspar (*1764) im Seidengeschäft aktiv war. So heisst es etwa im Bürgerbuch des Jahres 1799 betreffend der beruflichen Stellung von Caspar: «Gütergewerb, Seidenfabrik» (Stadtarchiv Bürgerbuch 1799, S. 13).
Die protoindustrielle Seidenindustrie war aber in Wollishofen gegen Ende des Ancien Régime generell «eine bedeutsame Erwerbsquelle» (Stauber, S. 42). In einer ersten «modernen» Betriebszählung 1781 gaben 12.5 % der Haushalte Wollishofens an, (mindestens teilweise) von der Textilindustrie zu leben. Noch stärker wurde die Seidenindustrie im 19. Jahrhundert. «Bei der Volkszählung von 1836», schreibt Stauber, «gab es über 100 Seidenweberinnen» – aber noch keine eigentliche «Seidenfabrik». Und: «Die Hausindustrie hatte also in den meisten Häusern Eingang gefunden.» Zu bemerken ist allerdings, dass dies nicht nur in Wollishofen so war, sondern generell in den Seegemeinden. Hotspots waren etwa Thalwil, Horgen und Wädenswil, sowie das Knonauer Amt.

Seidentuch zum Kirchenjubiläum 1955.
Später Anklang an die grosse Wollishofer Seidengeschichte. Sammlung MZ.
Die spätere Geschichte der Wollishofer Seide wurde bereits im Blogbeitrag über die «Rote Fabrik» erörtert. Kurz zusammengefasst war es Gustav Henneberg, ein Seidenhändler aus Halle, der sich in Zürich niederliess und die Wollishofer Jungfrau Cleophea Zeller ehelichte, und seine Aktivitäten vom Handel in die Seidenproduktion erweiterte, indem er eben anfangs der 1890er Jahre die Rote Fabrik als Seidenfabrik erstellte. Nach mühsamen Arbeitskonflikten gab Henneberg indessen den Stab bald weiter und verkaufte die Fabrik an die Gebrüder Stünzi, die in Horgen bereits als Seidenindustrielle tätig waren. Bis zum 1. Weltkrieg lief das Geschäft gut, zeitweise bis zu 50 Zettlerinnen arbeiteten allein im Werk am See. Doch der 1. Weltkrieg und die nachfolgende Wirtschaftskrise brachten eine Wende und sorgten für schwierige Zeiten für die Seidenindustrie. Dabei ist zu beachten, dass die Schweizer Seidenindustriellen selber die Arbeit exportierten, indem sie mit der Zeit mehr Webstühle im Ausland betrieben als in der Schweiz; dazu kam die Erfindung der Kunstseide anfangs der 1920er Jahre.
Die Firma Stünzi produzierte Seide in Wollishofen noch bis ins Jahr 1933. Dann konnte man in den Neuen Zürcher Nachrichten lesen: «Packard-Service ist umgezogen». Um konkreter zu werden: «Die Firma Werner Risch, Besitzer des Packard-Service und Hersteller der SuissePackard, hat ihr Domizil vom Neumühlequai nach Wollishofen an die Seestraße verlegt. Die Seidenstoffweberei Stünzi u. Söhne hat einen Teil ihres Gebäudekomplexes käuflich der Firma Werner Risch überlassen.» (NZN 4.5.1935)** Der vordere Teil der Roten Fabrik wurde im gleichen Jahr der Firma STR (Standard Telefon Radio) übergeben. Damit war die Seide aus Wollishofen weitgehend verschwunden.
Die Zürcher Seidenindustrie ist inzwischen Geschichte. Der Rückblick auf diese Episode der Weltwirtschaft ist schön, hat auch seine problematischen Seiten, kann indessen sogar nostalgisch sein. Die Erinnerung bleibt durch museale Arbeit – das Landesmuseum etwa hortet die Musterbücher der verschiedener Seidenfirmen –, oder durch wissenschaftliche Aufarbeitung – Alexis Schwarzenbach leitet ein grosses Forschungsprojekt, das von der Zürcher Seidenindustrie getragen wird; am zugänglichsten ist wohl ein Dokumentarfilm von Helen Stehli, der jeder interessierten Person ans Herz gelegt sei.***
Sebastian Brändli
PS: Eine Bemerkung im Nachgang: Ein kulturinteressiertes Ehepaar an der Speerstrasse hütet seit Jahren eine grössere Anzahl von geretteten Musterstoffen – ausgerechnet die Musterkollektion der Seidenfirma Weisbrod-Zürrer in Hausen. Die Rettung bis dato ist das eine, was mit dem Schatz in Zukunft passiert das andere. Musterstoffe und -bücher sind aber auf jeden Fall schöne Indikatoren für kulturelle Trends, ästhetische Perfektion im Kleinformat sowie Eintrittspforte in die kulturelle Welt der Seidenindustrie. Das kann man nachempfinden auf der Homepage http://drob.ch/.
Vielen Dank für das Retten und Horten – und die Homepage!
* Im Wollishofer Buch von 1993 schreiben Rudolf Meier und Fred Winkler den Satz (S. 85): «Die Seidenweberei bestand [in Wollishofen] schon seit etwa 1720.» Diese Aussage wird nicht begründet, und ist nach allem, was heute bekannt ist, falsch. Ich nehme an, der gewählte Anfangstermin «etwa 1720» sei im Zusammenhang mit dem Färbereistreit 1728 gesehen worden. Das eine hat mit dem anderen aber nichts zu tun. Färber Abegg färbte zwar auch Seide, er wurde aber kritisiert, weil er als Städter, als Zünfter, im hoch regulierten Färbergeschäft auf der Landschaft arbeitete, was die Zunft als illegal betrachtete. Wollishofen war in diesem Streit nur Bühne. Die Wollishofer Seidenproduktion begann indes schon früher, im späten 17. Jahrhundert, als von der Stadt aus organisierte Heimindustrie.
** Zu Packard und seiner Geschichte in der Schweiz vgl. Werner Risch. Leben und Wirken. Herausgegeben vom Packard Club Switzerland, verfasst von Hans-Ruedi Wyss. 2024.
*** Der Film zur Zürcher Seidenindustrie von Helen Stehli ist zu sehen auf: https://zsig.ch/projekte/foerderung/welterfolg-zuercher-seide/




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