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EIN WEHRLI BLICKT AUF WOLLISHOFEN

Aktualisiert: 11. Okt.

Die Gebrüder Wehrli aus Kilchberg – Bruno, Artur und Heinrich – gründeten um 1895 einen Fotoverlag. Sie begannen mit den in jener Zeit aufkommenden Ansichtskarten und wurden durch den Boom derselben und die Qualität ihrer Fotos schnell erfolgreich. Leider sind wir, was das Unternehmen betrifft, nicht allzu gut informiert, fiel doch das Archiv der Firma 1930 einem Brand zum Opfer. Gleichwohl sind viele Wehrli-Aufnahmen erhalten, teils in sehr guter Qualität; eine schöne Sammlung wird in der Schweizer Landesbibliothek aufbewahrt, auch die ETH-Bibliothek und die Zentralbibliothek Zürich haben wertvolle Unikate in ihren Regalen. Das Unternehmen produzierte vor allem in der Zeit zwischen 1895 und 1930; rund 40'000 Aufnahmen auf Glasplatten dürften dabei entstanden sein. Das 33. Neujahrsblatt der Gemeinde Kilchberg auf das Jahr 1992 war dem Fotoverlag gewidmet, es konnte vor allem durch die Berichte der Tochter von Bruno, Erika, erstellt werden.

 

Es gibt auch Aufnahmen von Wollishofen aus dem Hause Wehrli, teils wurden solche auch schon in bisherigen Blogbeiträgen als Illustration verwendet. Auf e-documenta ist seit einiger Zeit aber ein Ansichtskarten-Juwel für die Wollishofer Geschichte aufgeschaltet. Es zeigt Wollishofen von der Seeseite, kurz nach 1900, und dies in einer Qualität, in einer Schärfe, die alle gleichalten Fotos mit demselben Sujet in den Schatten stellt. Es lohnt sich deshalb, dieses Foto in einem eigenen Blogbeitrag vorzustellen und in den Kontext der Geschichte des damals jungen Stadtquartiers zu stellen.


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Wollishofen vom See aus. Um 1903. Gebrüder Wehrli.

Zentralbibliothek Zürich (e-manuscripta)*


Wir schauen auf Wollishofen um 1900, sehen vorne das Ufer, längst noch nicht so viel aufgeschüttet wie heute, aber doch auch schon nicht mehr das «natürliche» Ufer, das bis 1800 mehr oder minder vorhanden war. Schreiten wir mit den Augen am Ufer entlang von rechts nach links sehen wir deutlich – in zwei Reihen, einmal direkt am Ufer, dann aber auch an der parallelen Seestrasse:


  • Das Bahnhofsgebäude, das 1897 von Zug her (Stein für Stein) nach Wollishofen kam, es wird von einem am Ufer vertäuten Dampfschiff knapp gestreift, den Kamin des Schiffes sieht man genau neben dem Bahnhöfli, links daneben das durch die Bahnstation entstandene Viertel an der Seestrasse; markant das weisse Gebäude an der Ecke See-/Staubstrasse sowie daneben, etwas kleiner, der Gasthof Hirschen.

  • Davor, das Werftgelände, mit mehreren Gebäuden, insbesondere der grossen schwarzen Werfthalle

  • Links des Werftgebäudes thront an der Seestrasse das stolze Fabrikgebäude, das später die Weltfirma MADAS übernahm und heute die Firma Microsoft beherbergt.

  • Weiter links erkennen wir, direkt am Ufer liegend, die beiden Gebäude der Ziegelhütte, die Unternehmer Hans Ulrich Staub errichten liess, dahinter die Gebäudegruppe «am Bach», und darüber thronend: die alte Kirche Wollishofen.

  • Davor, am Ufer, liegt ein Geviert mit kleinem Kamin und kleineren Schuppen, die in etwa da liegen, wo heute die weisse Fabrik der Fensterrahmenfabrik Kiefer noch steht.

  • Daneben markant die Rote Fabrik mit hohem Kamin (bzw. deren 2), dahinter die Greppi-Häuser, davor die flache, aber riesige Shedhalle. Der hohe Kamin ragt in den Himmel, und zeigt auf das Schulhaus Wollishofen A, das auf dem Foto auch sehr prominent zur Geltung kommt.

  • Den Abschluss der ufernahen Bebauung bildet das feudale klassizistische Gebäude der Seidenfabrikanten Honegger, 1848 erbaut, um 1900 von Carl Honegger bewohnt, im Seidengeschäft tätig wie seine Ahnen, seines Zeichens auch Präsident der Lesegesellschaft, des Quartiervereins und der reformierten Kirchenpflege.


Wann wurde das Foto geschossen? Wo stand der Fotograf?


Das Foto, das die Zentralbibliothek aufbewahrt und auf e-manuscripta* der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird, wurde von dieser Institution nur grob datiert: «zwischen 1900 und 1910». Es ist sogar noch ein Fragezeichen dahinter gesetzt. Nun: Diese Datierung stimmt zwar, kann aber noch präzisiert werden. Rote Fabrik (um 1890) und Greppihäuser (1895), oder der Bahnhof (1898) sind präsent, datieren das Foto also danach. Das jüngste Haus auf dem Foto steht aber nicht am Ufer, sondern liegt just hinter (über) dem MADAS-Fabrikgebäude. Dieses Haus mit Türmchen kennen Wollipedia-Leser:innen längst.

 

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Es ist die Villa Etzelstrasse 18, die in den 1930er Jahren von Seidenhändler Friedrich Klein bewohnt wurde (NEU IN WOLLISHOFEN).

Dieses Haus ist auf unserem Foto bereits errichtet, aber noch im Bau, man erkennt das Gerüst. Dieser Umstand datiert unser Foto auf das Jahr 1903.


Die Etzelstrasse entpuppt sich mit dieser Villa (Nummer 18) als erste der neuen Wollishofer Quartierstrassen, die eine durchwegs urbane Besiedlung mit Seeblick bot. Dazu trug auch das mächtige feudale Mehrfamilienhaus rechts bei, das kurz vor 1900 (1898) erbaut wurde und nicht nur eine prächtige Sicht auf den See bot, sondern auch über dem Bahnhofviertel thronte.


Bleibt die Frage, wo der Fotograf seine Kamera aufstellte und das Foto in den Kasten brachte. Diese Frage hat den Autor länger beschäftigt. Es wurde versucht, durch das Feststellen von Blickrichtungen den Standort des Fotografen zu rekonstruieren, doch diese Blickrichtungen erwiesen sich als recht parallel, was zur Interpretation führte, der Standort müsse sehr weit im See draussen gelegen haben. Erst in dieser Phase der Erkenntnis wurde ich schliesslich auf den schwarzen Wedel ganz links unten im Bild aufmerksam. Heureka! Das ist es, das Foto wurde vom anderen Seeufer, wohl direkt vom Zürichhorn her aufgenommen, der Wedel ist irrtümlich aufs Bild gekommen, er gehört nicht zu Wollishofen, der Strauch steht in Riesbach!


Das bäuerliche Wollishofen um 1900


Indem Fotograf Wehrli Wollishofen vom See aus, ja vom Gegenufer her präsentierte, kommen die grossen Gebäude zur Geltung, vor allem jene, die am See erbaut wurden. Dahinter wird auch der Albis präsentiert, mit der ganzen Pracht der Fallätsche. Das bäuerliche Wollishofen, das bereits durch urbane Siedlung zurückgedrängt wurde, etwa im Oberdorf (links oben), ist auf diesem Foto weniger prominent vorhanden. Doch ein schönes Detail zeigt eben doch noch ländliches Wollishofen: im Weiler «Auf dem Rain», der heutigen Rainstrasse, scheint um 1900 noch alles unberührt. Das zeigt der folgende Ausschnitt:


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Ausschnitt Rainsstrasse aus Wehrlis Ansicht 1903.


Das Ensemble «Auf dem Rain» um 1900 mit (von links):

  • Rainstrasse 6 (Bewohner Johannes Weber, Kunstmaler)

  • Rainstrasse 15 (Widumhof, verdeckt, Bewohner: Heinrich Müller)

  • Doppelbauernhaus Rainstrasse 10 und 12 (klar erkennbar zwei Baukörper)

  • Scheune (heute Rainstrasse 14)

  • und eine Riesenscheune rechts, rechts vom Rainfussweg.

Diese letztere ist mir bisher auf keinem anderen Foto aufgefallen (sie dürfte erst in der 2. Hälfte des 19. Jh. errichtet worden sein – nur schon von den Dimensionen her – und stand dort, wo sich heute Rainstrasse 22 und 24 befinden, d.h. die Scheune musste diesen schönen Jugendstil-Häusern weichen).


Auf dem Planausschnitt sind all diese Gebäude zweifelsfrei auszumachen.


Stadtkarte 1900, Ausschnitt auf dem Rain
Stadtkarte 1900, Ausschnitt auf dem Rain

 

Der Weiler «Auf dem Rain» lag um 1900 also noch vollkommen im Bauernland. Noch kein einziges urbanes Wohnhaus, aber noch richtige Bauernhäuser, Äcker und Baumgärten, und vor allem: Rebland! Wollishofen war eben bis ins 20. Jahrhundert hinein auch noch ein richtiges Weinbauerndorf!!



Sebastian Brändli

 

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