Wie plant man eine Stadt? Wie plant man, dass aus einem «unwilligen» Bauerndorf ein attraktives städtisches Quartier entsteht?
Man setze eine Kommission ein...
Die Stadt Zürich, die 1893 durch die Eingemeindung zahlreicher Vorortsgemeinden ihre Stellung als grösste Stadt der Schweiz ausbaute, hatte anfangs des 20. Jahrhunderts viel zu tun. Es galt nicht nur ein neues Zusammengehörigkeitsgefühl zu entwickeln, sondern auch eine einheitliche Verwaltung aufzubauen, und vor allem: die vielen Baustellen, die es in Verkehrs- und Wohnungsfragen gab, auf- und abzuarbeiten. Dabei gab es grosse Unterschiede zwischen den einzelnen Gebieten – man könnte von unterschiedlichen Entwicklungszuständen reden. Aussersihl war in gewisser Weise «entwickelter» als die Kernstadt, die Abhänge des Zürich- und Adlisbergs wollten gar nicht gross städtischer werden, und die bäuerlichsten, will sagen: rückständigsten, Gebiete wurden für grosse Planungen in Betracht gezogen. So auch Wollishofen.
Die Stadt bemühte sich, Wollishofen als städtisches Quartier zu entwickeln, setzte eine städtische Bebauungsplan-Kommission ein, um Siedlungs-, Verkehrs- und Grünflächenstrategien zu entwickeln. Karl Moser, der Architekturprofessor an der ETH, war Mitglied dieser Kommission.* Diese führte lange Diskussionen; sie legte auch die Grundlage für die genossenschaftliche Bautradition in Wollishofen. Unzählige Pläne mussten gezeichnet, diskutiert, modifiziert und beschlossen werden. Eine grundsätzliche Strukturierung der Quartiertopographie entstand durch das Planen und Realisieren der Erschliessung, d.h. vor allem von Strassen. Diese sollten so gelegt werden, dass sie das Gebiet eben gut erschlossen, aber auch genügend Platz für Wohn- und andere Nutzungen liessen. Die alten Römer nannten die Wohnparzellen zwischen den rechtwinklig angelegten Strassen «insulae» – Inseln.
Neue Strassen, neue Wohnviertel
Auch in Wollishofen entstanden durch neue Quartierstrassen neue Wohnviertel, so zum Beispiel auch im ansteigenden Gebiet oberhalb des Morgentals. Hier wurden schon um die Jahrhundertwende erste Pflöcke eingeschlagen, insbesondere wurde die Rainstrasse von einem Fussweg zu den Landwirtschaftsflächen zu einer beschaulichen Quartierstrasse – mit Wohnlagen mit Seeblick – ausgebaut. Zunächst war die Rainstrasse nur von der Albis- bzw. Butzenstrasse her erschlossen. Um die Mitte der 1920er Jahre kam dann die Morgentalstrasse als steile Erschliessung direkt vom Morgental her dazu (siehe Blogbeiträge Rainstrasse und Morgentalstrasse).
Die Freigabe des grossen Gevierts zwischen Rain-, Morgental-, Wachtel, und Speerstrasse für die Erstellung des Raindörflis war eine direkte Folge dieser Erschliessung.
Raindörfli (Ecke Speer-/Wachtelstrasse). Foto: O. Bosshard.
Sammlung MZ. Gelaufen 3.8.1932.
Betrachten wir zuerst die Karte etwas genauer: Die linke Hälfte des Vordergrunds ist ganz dem Raindörfli gewidmet, das kurz zuvor den Nutzern übergeben worden war. Der rechte Vordergrund zeigt die Wachtelstrasse, und zwar die «Südseite», die «ungeraden Nummern», wobei lediglich die Nummern 17, 19, 23 und «normal» nummeriert waren (es fehlten die Nummern 21 und 25). Das erste Haus aber, Ecke Rainstrasse, war Rainstrasse 35, erst der Neubau 2007 wechselte die Adresse zur Wachtelstrasse 15. Was zwar auf der Karte nicht zu sehen ist, aber schon existierte, war der Amselsteig; er ist bereits auf der Stadtkarte 1913 verzeichnet, als Fussgängerverbindung von der Wachtel- zur Drosselstrasse. Noch kurz zum Mittelgrund, wo die höchsten Wollishofer Bauten im See eine Horizontlinie bilden: Da erkennt man hoch aufragend das «Etzelschloss» (Etzelstrasse 31) sowie die derzeit akut bedrohte Etzelstrasse 27. Genau in der Richtung entlang der Wachtelstrasse sieht man das Buddenbrock’sche Anwesen Etzelstrasse 14 (mit Türmchen, abgebrochen 1955) sowie rechts davon die Jugendstilhäuser der Rainstrasse 22-32. Ganz rechts der Turm der St. Franziskus-Kirche.
Speerstrasse als Stückwerk
Ein Detail der Karte haben wir noch nicht beachtet: die Speerstrasse im Vordergrund. Sie endet mit der Kurve zur Wachtelstrasse. Es gibt noch keine Weiterführung nach Süden, zur Butzenstrasse. Wie kam das? War das geplant? Gemäss den Unterlagen, die mir zu Gesicht gekommen sind, war es so: Die Speerstrasse als Erschliessungstrasse für die Gebiete zwischen Rain- und Drosselstrasse war schon relativ früh Teil der Planung. Ein Quartierplan von 1915, der die Insulae zwischen Wachtel- und Werner- sowie zwischen Werner- und Butzenstrasse entwickeln wollte, beinhaltet als oberen Abschluss bereits eine Planstrasse, die mit «Speerstrasse» angeschrieben ist. Sie entspricht auch ziemlich genau der heutigen Strasse. Das war die Planung 1915. Ein erstes Teilstück dieser geplanten Strasse wurde dann mit der Überbauung Raindörfli von der Morgentalstrasse her realisiert – eben nur bis zur Wachtelstrasse. Das ist der Stand, den die Ansichtskarte wiedergibt. Anfangs der 1940er Jahre dürfte dann das Teilstück bis zur Butzenstrasse gebaut worden sein. Und erst noch später kam dann die Verbindung zur Lettenholzstrasse zustande.
Stadtplan 1913. Ausschnitt mit späterer Speerstrasse eingezeichnet. (SB)
Speerstrasse 60 (Wohnhaus) und 50 (Schreinerei Gebr. Lechner) um 1955.
Baugeschichtliches Archiv Zürich.
Von der Seite Lettenholzstrasse war die Erschliessung in Richtung Speerstrasse aber lange Zeit nicht klar. Das Geviert Albisstrasse/Moränenstrasse sollte urspünglich, um 1900, eine Fortsetzung hangaufwärts erhalten, indem eine weitere Parallelstrasse – «Farrenstrasse» genannt – vorgesehen war. Diese hätte über die Ziegelstrasse hinaus eine Fortsetzung Richtung Rainstrasse finden können. Die Farrenstrasse wurde aber nicht realisiert – doch das Baumeisterhaus am Ende der Speerstrasse (Nummer 60) zeigt mit seiner schrägen Positionierung, dass es sich offensichtlich an dieser nicht realisierten Parallelstrasse orientierte: Speerstrasse 60 liegt weder an der Lettenholz- noch an der Speerstrasse, sondern bildet mit dem Nachbarhaus und den beiden Strassen ein kleines dreieckiges Quartierplätzchen.**
Die «Fertigstellung» der Speerstrasse zwischen Butzen- und Lettenholzstrasse war länger pendent, so dass diese Forderung sogar im Quartierverein traktandiert wurde. Vollendet wurde sie aber erst nach 1945!
Tritt man vom oberen Eingang des Friedhofs Manegg in die Speerstrasse, würde niemand glauben, dass die Strasse einst anders geplant war – schnurgerade führt sie am Abhang des Entlisbergsausläufers entlang zur Lettenholzstrasse. Dahinter ein Stück Glarner Alpen. Am Weihnachtsmorgen 2023 mit eindrücklicher rötlicher Beleuchtung!
Frühmorgendliche Stimmung auf der Speerstrasse am Heiligabend 2023. Foto SB.
Und dasselbe tags darauf am Nachmittag:
Speerstrasse vom Friedhof aus. Foto: Julie Brändli (25.12.2023).
(SB)
* Baukultur in Zürich. Band Enge, Wollishofen, Leimbach. Zürich 2009, S. 101 (Daniel Kurz).
** Auf diesem Quartierplätzchen gastierte – erzählen mir ältere Quartiereinwohner – regelmässig ein Zirkus. Wer sich an diesen erinnert und allenfalls Fotos davon besitzt, melde sich gerne via Kontaktformular bei uns. Besten Dank!
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