Das Raindörfli ist eine Wollishofer Besonderheit! Es gehört zur Gemeinnützigen Baugenossenschaft Zürich 2 (GBZ2) und wurde 1931 fertiggestellt. Und es sieht heute, nach über 90 Jahren, immer noch fast gleich aus wie damals!
Die Gemeinnützige Baugenossenschaft Zürich 2 baute in den Jahren 1928 bis 1933 zahlreiche Liegenschaften im Gebiet der Albis-, Morgental- und beidseitig auch an der Tannenrauchstrasse – in fünf Etappen. Etappe 4 war insofern speziell, als dass ein nahezu quadratisches Areal, begrenzt durch Rain-, Wachtel-, Speer- und Morgentalstrasse fast vollständig für dieses Vorhaben genutzt werden konnte. Die Mehrheit der hier erstellten Bauten sind zweistöckige Reiheneinfamilienhäuser, die ergänzt werden mit dreistöckigen Wohnungsbauten an der Wachtelstrasse (vgl. Lebensmittelladen an der Wachtelstrasse im Blog Migros-Hochhaus). Der Charakter der ganzen Siedlung ist grün, die lockere Bebauung und die grossen Gartenflächen nehmen – bewusst oder unbewusst – Bezug auf das vormoderne bäuerliche Wollishofen, auch wenn die Architektur mit Baujahr 1931 modernistische Züge aufweist. Weitere Fotos und Pläne finden sich im Band «Kommunaler und genossenschaftlicher Wohnungsbau in Zürich 1907-1989» (Zürich 1990).
Im Raindörfli in Wollishofen um 1931. Fotograf: Heinrich Wolf-Bender.
Baugeschichtliches Archiv Zürich.
Im Raindörfli wohnten und wohnen unterschiedliche Leute. 1931 kostete die Miete eines Einfamilienhäuschens am Zeisigweg mit 5 Zimmern einen Jahreszins von 2'600 Franken, «monatlich zu zahlen mit Fr. 216.70 auf den ersten eines Monats». Die Mieter waren – wenn man mit anderen Genossenschaften in Wollishofen vergleicht – (zu Beginn?) eher bürgerlich. Das erkennt man an den Berufen der männlichen Familienvorstände. Neben Architekten, Kantonsschulprofessoren und Handelslehrern finden wir da auch eine Pfarrwitwe. So hat etwa die Ehefrau des langjährigen Wollishofer Pfarrers Johann Rudolf Hauri, der 1939 viel zu früh verstarb, im Raindörfli ihren Lebensabend zugebracht (Witwe Cäcilia, geb. Lauffer, wohnte bis zu ihrem Tod 1967 im Raindörfli 3). Es wohnten aber auch kaufmännische Angestellte und Prokuristen, Handwerker – v.a. Maler –, ein «a. Wirt», ein Zollaufseher, ein Lokomotivführer, ein «Buchdruckmaschinenmeister» u.a. in der schön gelegenen, in sich geschlossenen Siedlung zwischen Rain- und Speerstrasse. Und es wohnte da sogar der Direktor der Telephon- und Telegraphendirektion: Ernst Käser!
Raindörfli im Winter. Foto SB (21.01.2021).
Ein weiterer Direktor
Die Nummern Im Raindörfli 15-25 (ungerade Nummern) gehören zwar zum Raindörfli, sind aber nicht im Besitze der Baugenossenschaft. Das Land, auf dem sie stehen, konnte von der GBZ2 seinerzeit nicht erworben werden; vielmehr war es ein anderer Architekt, der auf eigene Rechnung diese Häuerzeile baute – und dies ganz im Stile der Siedlung der Genossenschaft; sie sind bis heute in Privatbesitz. Ernst Käser beispielsweise wohnte in Nummer 15, und im obersten, in Nummer 25, wohnte in den 1940er Jahren ein weiterer Direktor. 1945 heisst es im Adressbuch: «Emil Bosshard-Bürgler, Direktor, Im Raindörfli 25». Von dieser Ecke des Raindörflis gab es eine Postkarte, die Bosshard mit grösster Wahrscheinlichkeit selber in Auftrag gegeben hatte. Ein Fotograf oder Verlag ist auf der Rückseite nicht vermerkt!
Im Raindörfli 25. Private Ansichtskarte von Emil Bosshard-Bürgler. Um 1945.
Sammlung MZ. Gelaufen am 18.7.194?.
Die Ansichtskarte ist aber gelaufen, adressiert an eine Familie Gottfried Jakob-Bosshard, zur Mühle in Düdingen. Die Schwester von Emil hatte also einen Freiburger Müller Jakob geheiratet, und ihre Tochter Trudi dem Bruder nach Zürich in die Ferien geschickt! Trudi hatte es feudal: Onkel Emil holte sie am Bahnhof ab, und sie hatte im Raindörfli ein Zimmer «allein für sich»!!
Weitere Recherchen ergaben, dass Onkel Emil nicht einfach ein Direktor, sondern der Direktor der Zürcher Dampfbootgesellschaft war. Emil Bosshard war aus dem Zürcher Oberland, gebürtig von Bauma (*1880). Seine Familie stammte aber von Turbenthal. Bei der Tösstalbahn machte er eine Lehre. Und er kam 1913 als Verwalter zu den Zürcher Dampfschiffen. Später, als die Stelle eines Direktors geschaffen wurde, rückte er auf diese Stelle vor und war so der erste Direktor – ich meine ab 1924. Weshalb ab 1924? Das erste Inserat der Zürcher Schiffahrtsgesellschaft, das eine Direktion als Absender erwähnt, stammt eben von 1924. Es warb für «Mondscheinfahrten» im Juli auf dem Zürichsee!!!
Zürichsee Mondschein-Fahrten, erstmalige Erwähnung der Direktion 1924, NZZ 16.7.1924.
Später, wohl 1954, zügelte der alt Direktor mit seiner Frau Verena an die Seeblickstrasse 8, wo er 1957 starb. In der NZZ erschien eine Totentafel, die seine Verdienste als Direktor würdigte. «Unter seiner Leitung wurde im Jahre 1914 die Flotte der Zürichseeschiffe um den Salondampfer ‚Stadt Rapperswil‘ vergrößert. Der Verstorbene war der neuen technischen Entwicklung gegenüber aufgeschlossen; so wurden denn auf seine Initiative hin im Winter 1931/32 der Dampfer ‚Wädenswil‘ und im Winter 1935/36 der Dampfer ‚Thalwil‘ auf den Betrieb mit Dieselmotoren umgebaut. Im Sommer 1934 und im Sommer 1936 kamen die als Motorschiffe erstellten ‚Etzel‘ und ‚Stäfa‘ in den Verkehr.» Besonders vermerkt wurde auch, dass Bosshard im Vorstand des Zürcher Verkehrsvereins und in mehreren anderen verwandten Vereinen war. Nicht der Erwähnung wert war offenbar, dass er auch langjähriger Präsident der Verschönerungsvereine Zürichs war!! (NZZ 28.4.1957)
Klara Obermüller
Eine besondere Bewohnerin des Raindörflis war auch Klara Obermüller. Wollishofen erscheint im 2. Kapitel ihres Buches «Spurensuche. Ein Lebensrückblick in zwölf Bildern.», 2016 erschienen in der Edition Xanthippe. Sie reflektiert ihre Kindheit und schreibt den schönen Satz: «In meiner Erinnerung war das Raindörfli ein Paradies.» Und, bezogen auch auf die Erwachsenenwelt: «Das Raindörfli bildete eine in sich geschlossene Welt, der Krieg und Katastrophen scheinbar nichts anhaben konnten.» Und dennoch: Jeder Mensch hat seine eigene Kindheit. Obermüller versucht dem, mit einem Heft ihres Vaters auf die Spur zu kommen. Sie schreibt dazu: «Unter den Papieren, die mein Vater nach seinem Tod hinterlassen hatte, fand sich neben den Tagebuchaufzeichnungen auch ein kleines schwarzes Wachstuchheft. Als ich es öffnete, stellte ich fest, dass er darin akribisch festgehalten hatte, was es über mich und meine Person zu sagen gab. ‚Geboren 11. April 1940 in St.Gallen‘, steht da, ‚Heimatort Othmarsingen/ Aargau, im Raindörfli eingezogen 20. August 1940, Heimatschein vom 26. April 1940, Kontrollnummer Register Zürich Y4924.‘» Im schwarzen Heft hielt der Vater auch die Entwicklung ihres Gewichts fest, den Zeitpunkt des Erscheinens der ersten Zähne – und ihre ersten Worte: «Amm und Apa und seinen Namen: Äiji!»
Über ihre Kinderzeit in Wollishofen berichtete Klara Obermüller auch in einem Text, der unter dem Titel «Ist meine Stadt (noch) meine Stadt?» steht und im Internet abrufbar ist (2015). Sie berichtet darin von den Läden Wollishofens – die Läden geben einem Dorf oder Quartier halt ihren Charakter – sowie von den von der Grossmutter gestrickten «zu warmen Unterhosen» und den «kratzenden Strümpfen». Und sie berichtet auch von der religiösen Pluralität Wollishofen – und dem bekannten reformierten Hauptakzent.
Klara Obermüller erhielt zahlreiche Preise und Ehrungen, so das Ehrendoktorat der Theologischen Fakultät der Universität Zürich, den Zürcher Journalistenpreis für das Gesamtwerk sowie 2020 die Auszeichnung der Stadt Zürich für besondere kulturelle Verdienste.
Klara Obermüller. Foto Xanthippe Verlag. 2018
Als Klara Obermüller in Zürich, Hamburg und Paris die Fächer Germanistik, Romanistik und allgemeine Geschichte studierte, wohnte sie nicht mehr in Wollishofen. Ihre Dissertation behandelte das Thema «Melancholie in der deutschen Barocklyrik». Sie arbeitete in den Feuilletons der NZZ, der Weltwoche und der FAZ. Wichtig war vor allem ihr Engagement in der Kunst- und Kulturzeitschrift du. Seit 1989 war sie auch für das Fernsehen tätig, als Mitglied des Literarischen Quartetts beim ZDF, als Moderatorin der Sternstunde Philosophie auch beim Schweizer Fernsehen.
Heute ist sie freie Publizistin, ihr letztes Buch: Die Glocken von San Pantalon. Ein venezianisches Tagebuch. Zürich und München 2020.
(SB)
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