HOHE SPEKULATIONSBAUTEN
- Sebastian Brändli
- vor 12 Stunden
- 7 Min. Lesezeit
Auch aufmerksame Wollipedia-Leserinnen und -Leser haben das Wort Spekulation noch nie im Wollishofer-Blog gelesen, obwohl dieses unsympathische Verhalten für das Stadtquartier in seiner mehr als 100jährigen Geschichte immer wieder eine Rolle gespielt haben dürfte. Natürlich interessiert mich als Reporter aus der Vergangenheit immer, wie Architektur zustande kommt bzw. kam, wie die Bebauung geplant und realisiert wurde, wer hier baute und weshalb. So entstanden etwa der Blogbeitrag über Karl Moser und seine Moserhäuser an der Rainstrasse, oder die Bemerkungen über die «Renditehäuser» im ersten Beitrag über die Albisstrasse. Ein anderer Beitrag galt den Greppihäusern – mit dem Tessiner Architetto Greppi, der durchaus spekulativ unterwegs war (und daran scheiterte). Und im Beitrag NEU IN WOLLISHOFEN spürte ich dem Investitionsverhalten von Dr. med. Edwin Kreis nach, der als erster an der Rainstrasse zwei urbane Wohnhäuser mitten im unversehrten Bauernland baute – noch vor der Durchführung eines regulären Quartierplanverfahrens; das eine Haus verkaufte er umgehend, das andere gehörte seiner Ehefrau, und wurde später der Tochter Bertha übertragen, die mehrere Jahrzehnte darin wohnte (Rainstrasse 35).
Auf die Idee, einen Beitrag über «zu grosse Häuser» zu schreiben – die eben eine Verbindung zur Spekulation aufmachen –, brachte mich indes die Publikation des Quartiervereins zum 50. Jubiläum im Jahr 1950. Dort stehen gleich zu Beginn des Textes zwei Sätze, die einen auch 2024 noch nachdenklich stimmen: «Die bauliche und industrielle Entwicklung setzte im ersten Dezennium nach der Stadtvereinigung rasch, aber grösstenteils in unerfreulicher Weise ein. Es entstanden verschiedene verunstaltende und zu hohe Spekulationsbauten.»* Mit den Begriffen «verunstaltend» und «Spekulation» kommt eine über «akademische Fragen» hinausweisende Kritik in den Blog. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Bemerkung im Jubiläumsheft rückblickend erfolgte, vom Jahr 1950 aus. Selbstverständlich war ich sofort neugierig, auf welche Bauten die Kritik des Quartiervereins wohl Bezug nehmen wollte? Und: Wie sahen es die Zeitgenossen um 1900? Gab es damals schon die gleiche Kritik? Wer galt allenfalls als Spekulant, und wer «nur» als Investor oder – noch positiver – als Erbauer guter und begehrter Wohnungen?
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Seidenwebereifabrik Henneberg/Stünzi, Seestrasse 395. Um 1930. BAZ.
Industriebauten, die um 1900 erbaut wurden, waren in der Regel grosse Gebäude. Die Rote Fabrik etwa, um 1890 vom Seidenfabrikant Gustav Henneberg als Bauherr hochgezogen, war für die Zeit ein sehr grosses Gebäude. Kritik am Bau findet sich in der zeitgenössischen Presse kaum. Der Hinweis auf den bevorstehenden Bau in der NZZ am 21. April enthält sich jeder Kritik: «Das Seidenwarengeschäft G. Henneberg in Zürich gedenkt in Wollishofen eine große Seidenwarenfabrik anzulegen.» Das genügte. Und unter dem Titel «Bauthätigkeit Zürichs und der Ausgemeinden» sang die Zeitung am 9.8.1896 ein Loblied auf die intensive Bautätigkeit, indem innert eines Jahres «617 Neubauten jeder Art» gezählt wurden, um dann «von den neuen Fabriken» besonders «die Seidenweberei von Henneberg in Wollishofen» hervorzuheben. Natürlich wissen wir damit nicht, wie die Wollishofer darüber dachten, am Stammtisch, oder einfach persönlich. Aber öffentliche Kritik daran ist kaum anzunehmen. Und als 1896 die Belegschaft streikte, und jede Argumentation für diese politische Aktion herhalten musste, notierte die NZZ: «Nach dem Urteil des Fabrikinspektors sind diese neuen Fabriken wahre Musteranstalten, was die Einrichtungen anbelangt, welche zum Besten der Arbeiter getroffen sind; die Räume sind weit, hoch und hell, und für eine gute Ventilation ist ausgiebig gesorgt, was freilich die ‘Arbeiterstimme’ nicht hinderte, eine Darstellung zu veröffentlichen, nach welcher man glauben müßte, daß die Arbeiter dort ‘in stinkigen Löchern’ untergebracht wären.» (22.6.1896)

Seestrasse mit 6-stöckigen Greppihäusern 1922, neben traditionellen Kleinbauten (z.B. Seestrasse 392, 1939 für Unterführung abgerissen). Tiefbauamt. BAZ.
Der Bau der Hennebergschen Seidenweberei – obwohl damals ein Riesengebäude – dürfte in die Kritik des Quartiervereins nicht eingeschlossen gewesen sein. Wohl aber der Gebäudekomplex vis-a-vis: die Greppi-Häuser (Seestrasse 404ff), vier sechsstöckige «Hochbauten», die dem Volumen der Roten Fabrik durchaus Konkurrenz machten, und sich neben den traditionellen Wollishofer Kleinbauten massig gaben. Architekt Greppi baute die Grosswohnhäuser in eigener Regie, und vermietete nach Abschluss der Arbeiten die Wohnungen. Er beabsichtigte, die Objekte vermietet an eine anlagewillige Kundschaft zu verkaufen. Ihm kam der Tod dazwischen, der Nachlassverwalter führte diese Arbeit indessen fort. Die Greppihäuser mit Baujahr 1895 waren die ersten Grossbauten dieser Art in Wollishofen, doch es folgten nächste Beispiele auf dem Fuss.
Suchten die Greppi-Häuser die Nähe der am Seeufer gelegenen Industrie als billige, über die Seestrasse gut erreichbare Unterkunft für Arbeiter und Angestellte, so lag die Sache beim ehemaligen Oberdorf ganz anders. Hier war es das Tram, das neue Erreichbarkeit versprach. Es führte um 1900 zwar nur bis zum Morgental, gleichwohl machte es das «Oberdorf» attraktiver. Ein Hotspot entwickelte sich dort auf der Bergseite der Albisstrasse. Sie war vormals wenig mit Häusern besetzt, man konnte also Bauernland relativ direkt in städtisch motiviertes Bauland umwandeln. Das betraf vor allem das Gebiet zwischen Lettenholz- und der neuen Ziegelstrasse, das zusammen mit der Moränenstrasse ein ganz neues, eng besiedeltes Kleinquartier mit hoher Rendite – weil hoher Dichte – versprach. Noch heute zeugen die einst im Jugendstil erbauten Hausnummern 84-92 an der Albisstrasse von der gewaltigen Aufbruchstimmung, die Wollishofen wenige Jahre nach der unglücklichen Eingemeindung zu «Gross-Zürich» erfuhr; das Kleinquartier setzte sich auch an der beginnenden Lettenholzstrasse fort, und parallel zur Moränenstrasse wäre etwa im gleichen Abstand eine weitere Fortsetzung bergauf geplant gewesen. Doch die Bäume wachsen nicht in den Himmel, später wurde statt der geplanten Parallelstrasse dann weiter bergwärts die anders ausgerichtete Speerstrasse bis zur Lettenholzstrasse verlängert (siehe Blog Puzzle).

«Renditehäuser» Albisstrasse 84-92. Foto 2022 SB.
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Ein dritter Ort, wo die urbane Post abgehen wollte, war die Umgebung des Restaurants Morgental. Die Wirtschaft selber war mit Baujahr um 1850 zwar noch nicht richtig alt – sie gab sich aber traditionell rural und machte auf alt. Im Gegensatz dazu baute auf der anderen Strassenseite 1897 ein stadtwilliger Architekt ein fünfstöckiges Mehrfamilienhaus – ein "späthistoristischer Kopfbau" (INSA, S. 373) mit Restaurant im Parterre. Obwohl zwischen Albisstrasse und Etzelstrasse platziert, war die Adresse Mutschellenstrasse 197. Im Erdgeschoss befand sich zunächst das Restaurant Freieck (wo heute die Raiffeisenbank ist). Erst später wurden zusätzliche Ladenlokale eingebaut. In den 1970er Jahren wurde der Bereich des ehemaligen Restaurants zu einer Bankfiliale der Schweizerischen Kreditanstalt SKA umgebaut. Im Ladenlokal nebenan befand sich lange Zeit eine Filiale der Metzgerei Bell.
So eingebettet das Haus heute im Zentrum Wollishofens wirkt, so überraschend und erstaunlich urban – und wohl auch überdimensioniert – wurde das Gebäude im beginnenden 20. Jahrhundert empfunden.

Wollishofen um 1900. Vorne das Unterdorf, in der Mitte die urbanen Kernbauten des Morgentals, dahinter die Mutschellenstrasse, recht die fast unverbaute Etzelstrasse. BAZ.
Ein vierter Hotspot ist heute kaum mehr als solcher erkennbar. In der Nähe des Bahnhofs, an der Seestrasse zwischen Billoweg und Staubstrasse. Dort wurde die Seestrasse 1904 begradigt, am Haumesser vorbei, und so auch gut erschlossenes Bauland geschaffen, auf dem sich zwei Architekten um 1910 aufs grosse Format vorwagten. Einerseits die Nummern Seestrasse 292-298 – ein architektonisch noch heute lesbares, interessantes Jugendstilensemble, das ein Thurgauer Architekt mit Namen Alfred Iselin (auch Jselin geschrieben) 1911/12 errichtete. Das INSA (Inventar der neueren Schweizer Architektur) kennzeichnet die Bausprache folgendermassen: «Vor- und zurücktretende Risalite, Erker, Loggien, Balkone und Eckerkertürme. Dachgesimse mit Ornamentmalerei.» (S. 404) Der Architekt übernahm sich dabei aber offensichtlich, musste nach einem ersten Verlust 1909 (bei dem er gezwungen war, selber errichtete Wohnhäuser in Wipkingen herzugeben) 1911 Konkurs anmelden. Bei diesem ging er der vier grossen Mehrfamilienhäuser an der Seestrasse verlustig; sie gingen zunächst alle an die Firma «Goldinger & Klaus», die sie aber schon bald weiterverkauften. Spätestens 1925 waren sie alle in unterschiedlichen Händen.
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Vier mind. 5-stöckige Mehrfamilienhäuser Seestrasse 292-298. Architekt Alfred Iselin.
Foto 1980, Wolf-Benders Erben. BAZ.
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Vis-a-vis, auf der Seeseite der Seestrasse, baute wenig später der aus Baden-Württemberg nach Zürich gezogene Architekt Friedrich Fissler (1875-1964), der bereits seit 1906 Zürcher Stadtbaumeister war. Er erstellte die Mehrfamilienhäuser Seestrasse 297-303 für den Bauherrn Johann Jakob Bucher, Rechtsanwalt, der damals an der Mutschellenstrasse wohnte; Bucher engagierte sich auch im Quartierverein, war kurze Zeit dessen Präsident, zog indessen kurze Zeit später nach Oberstrass.

Wohnblöcke 5stöckig. Fassadenansicht 1923. Architekt Fissler. Ortsmuseum.
Selbstverständlich gab es in jenen Jahren noch weitere massige Bauten, die vom Quartierverein möglicherweise kritisch beurteilt wurden. Das ästhetische Problem war das eine, das andere aber die Spekulation selber. Sie heizte die Bodenpreise an, so dass schon bald die Forderung nach mehr genossenschaftlichem Bauen laut wurde. Die Wohnbaugenossenschaften selber warben für sich mit dem Argument, kostbares Land der Spekulation zu entziehen. Sie warben damit bei möglichen Verkäufern, von denen sie zahlbare Grundstückspreise erwarteten, sie warben damit bei der Stadt und bei Banken, die ihnen die nötigen Kredite zuhalten sollten, sie warben damit aber auch bei den Bewohnerinnen der Stadt, um sie zum Beitritt und Mitwirken in ihrer Organisation zu überzeugen.
Kampf der Spekulation
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Ein besonders schönes Beispiel für den Kampf gegen die Spekulation ist auch in der NZZ vom 24.11.1901 geschildert – wo just die Vertreter aus Wollishofen führend mitwirkten. Dort wurde von der «Delegiertenversammlung des Centralverbandes der stadtzürcherischen Quartiervereine» berichtet, die im Zunfthaus zur Schmiedstube stattfand. Inhaltlich ging es um eine Vorlage, die «offene Bebauung»** begünstigen sollte; diese Vorlage war auch gegen die Spekulation gerichtet. Just an jener Versammlung waren Vertreter des Quartiervereins Wollishofen (gegründet 1900) erstmals vertreten. Die Neulinge in der Runde hielten sich indes nicht vornehm zurück, sondern stellten schon an ihrer ersten Sitzung einen Antrag. Sie wollten die Vorlage dem Referendum zu unterstellen. Sie argumentierten, der Quartierverein Wollishofen habe den Antrag einstimmig beschlossen und sich von folgenden Gründen leiten lassen: «Die Wichtigkeit der Vorlage rechtfertige es, daß sie dem Referendum unterstellt werde. Sie schneide tief ein in die Privatrechte, indem sie vieles untersage. Die Vorlage sei wichtiger als manche finanzielle, welche dem obligatorischen Referendum unterliegt. Sodann enthalte die Verordnung viele Unklarheiten; speziell die Redaktion und die Abgrenzung der einzelnen Gebiete seien vielfach unklar. Ebenso finde man in der Verordnung viele Inkonsequenzen; für geschlossene Bebauung geeignete Gebiete seien darin für offene Bebauung bestimmt worden und umgekehrt. Speziell das Quartier Wollishofen sei in dieser Hinsicht schlecht behandelt worden.»
Die anderen Quartiervereine waren teils für, teils gegen den Antrag. Jene die dagegen waren, formulierten es so: «Mit einer Referendumsbewegung würde man entschieden Fiasko machen, weil man unter dem Spekulantentum viel gelitten hat, dem die Verordnung wenigstens etwelche Schranken setzt. […] Man thue gut, für einmal das Gebotene zu acceptieren. Bis eine neue Vorlage käme, würden Jahre vergehen, und die Zwischenzeit würde die Spekulation ausnützen zum großen Nachteil der Allgemeinheit.»
Diese Argumentation war offenbar erfolgreich. Der Antrag wurde schliesslich abgelehnt, zwar knapp, aber doch: «Mit zwei Stimmen Mehrheit [wurde] beschlossen, von der Anbahnung einer Referendumsbewegung Umgang zu nehmen», schrieb die Zeitung. Zwar setzten sich die Wollishofer damit bei ihrem ersten Auftritt auf der städtischen Bühne nicht durch, doch die Anekdote zeigt, wie akut man im Quartier am linken Seeufer vom Problem der Spekulation betroffen war.
Sebastian Brändli
* 50 Jahre Quartierverein Wollishofen. Wollishofen 1950, S. 3. (Autoren: Heinrich Weber-Dressler, Jakob Gonzenbach, Dr. Carl Baumann)
** Die Begriffe «geschlossene Bebauung» (mit zusammenhängenden Häuserreihen) und «offene Bebauung» (mit vereinzelt stehenden Gebäuden) finden sich im kantonalen Baugesetz von 1893. Sie steuern auf Gesetzesstufe die Intensität der Überbauung von Arealen.