Der Quartierverein Wollishofen wurde 1900 gegründet. Weshalb entstand dieser Verein? Und was hat er in der über 120 Jahre dauernden Existenz geschafft, gedacht, erreicht, verfehlt?
2023 gibt es 25 Quartiervereine in der Stadt Zürich. Die ersten wurden noch im 19. Jahrhundert gegründet, der jüngste 1978 (Grünau). Viele Quartiervereine der 1. Generation entstanden kurz vor oder um 1900, eine zweite Welle gab es dann anlässlich der 2. Eingemeindung 1934. Wollishofen gehörte zur ersten Generation, liess sich aber etwas mehr Zeit als zum Beispiel Fluntern, Hirslanden oder Hottingen. Das hatte wohl auch damit zu tun, dass es in Wollishofen seit 1798 die Bürgerliche Abendgesellschaft (später Lesegesellschaft) gab, die in einigen Fragen so funktionierte wie heute ein Quartierverein. Die Eingabe für eine Erneuerung des Bahnhofs Wollishofen 1917 wurde z.B. von Lesegesellschaft und Quartierverein gemeinsam erarbeitet und eingereicht. Doch weshalb wurde der Quartierverein 1900 gegründet?
Jean Trachsler-Maurer.
Landwirt aus der Mutschelle.
Initiant des Quartiervereins 1900.
Präsident QV 1913-1943.
Foto aus: 50 Jahre Quartierverein.
Auslöser für die Gründung war die Frage des Trams. Seit 1894 war Wollishofen mit dem Tram erreichbar, indem der Abschnitt Bahnhof Enge-Wollishofen Morgental errichtet und eröffnet wurde. Doch schon bald gab es Stimmen, die das Tram über das Morgental hinaus bis ins Oberdorf Wollishofen verlängern wollten. Am 3. April 1900 fand zu diesem Zweck eine «Tramversammlung» statt. Neben dem eigentlichen Thema, der Verlängerung des Trams, stellte Jean Trachsler «aus der Mutschelle» die Frage: «Wäre ein Quartierverein in Wollishofen von Nutzen?»
Zunächst hatte die Tramversammlung kein Musikgehör und lehnte den Antrag auf Gründung eines Quartiervereins mit Verweis auf die Lesegesellschaft ab. Dennoch wurde ein dreiköpfiges Comité eingesetzt, das die Gründungsfrage diskutieren und vorbereiten sollte: Heinrich Germann, Wagnermeister im Unterdorf, Jakob Keller, Gärtnermeister sowie Jean Trachsler, Landwirt in der Mutschelle waren die Mitglieder. Das Comité machte fürschi!! Schon am 25. April 1900 wurde eine konstituierende Versammlung mit 48 Teilnehmern durchgeführt. Der Referent der Versammlung, Dr. Albert Keller, wohnhaft an der Widmerstrasse 8/10 – heutiges Ortsmuseum (vgl. BLOG) – schlug erste Statuten mit 7 Artikeln vor, und er schilderte den Nutzen eines Vereins dermassen farbig, dass er auch gleich zum ersten Präsidenten gewählt wurde!
Dr. iur. Albert Keller-Rinderknecht.
Erster Präsident Quartierverein (1900-04). Foto: Ortsmuseum.
Schon in der ersten Versammlung skizzierte der nachmalige Präsident Keller die aus seiner Sicht wichtigsten Themen, die der Quartierverein zu behandeln hätte: offene und geschlossene Bebauung, Expropriation und Quartierplanverfahren, Abschaffung der Liegenschaftensteuer. Diese Themen wurden ergänzt durch Quartierwünsche, etwa: Verbindungsstrasse zwischen Bahnhof und Mutschelle, neue Badeanstalt (mehr im Zentrum des Quartiers), Schulhausbau, Eindolung des Dorfbachs an der Bachstrasse, Verbesserung der Seestrasse, Trinkwasserbrunnen, Tramfragen, Schiffsverkehr. Doch schon bald setzten andere die Themen: So kam der Umbau (Tieferlegung) der linksufrigen Zürichseebahn ins Rollen und brachte zahlreiche Fragen, mit denen sich ein Quartierverein auseinandersetzen musste, etwa: Wo sollen Bahnübergänge geschaffen werden? Dann wollte man beim Bau eines neuen Schulhauses mitreden, insbesondere den fürs ganze Quartier günstigsten Bauplatz ausfindig machen. Tramführung und Tramausbau waren von Beginn weg dominierende Themen, Unterführungen unter der Bahn hindurch ebenso.
Als Verein organisierte man für die Mitglieder auch zahlreiche Anlässe – zum Aufbau von Information ebenso wie für die Geselligkeit im Verein: 1909 besuchte man das neue Gaswerk, 1915 das Wasserwerk im Horn und im Moos, 1919 war man in Eglisau, das neue Kraftwerk zu besichtigen, 1921 erkundete man die Quellwasserfassungen im Lorzegebiet und den Ulmbergtunnel usw. usf.
Erstes Jubiläum 1925
1925 feierte man ein erstes Vierteljahrhundert Existenz. Ein grosses Werk, das aus diesem Anlass in Auftrag gegeben wurde, wurde erst 1926 abgeschlossen: Zum Jubiläum schenkte sich der Quartierverein die Ortsgeschichte Wollishofens, bestellt beim Historiker und Primarlehrer Dr. Emil Stauber. In diesem Werk engagierten sich auch andere Mitglieder des Quartiervereins, so vor allem Heinrich Weber-Dressler, Architekt und Vorstandsmitglied, als Fotograf. Staubers Leistung war die konzise historische Darstellung und die Illustrierung mit den Malereien und Zeichnungen von Burkhard, Weber-Dresslers Beitrag waren zahlreiche Fotografien – eine Dokumentation, die er auch nach dem Erscheinen des Buches Alt Wollishofen weiterführte (Fotos heute im Ortsmuseum und in der Zentralbibliothek).
Die weitere Geschichte des Quartiervereins liest sich – etwa in der Festschrift 1950 – wie eine Ortsgeschichte, vor allem eine Strassen- und Wohnbaugeschichte. Es geht in den 1930er und 1940er Jahren um den Ausbau der Albisstrasse zur Ausfallstrasse mit Alleenbepflanzung, um den Bau von Owen- und Weitlingweg, um den Ausbau der Butzenstrasse (und die Umbenennung der Unteren Rainstrasse als ersten Teil der Butzenstrasse, was «allerdings einiger Opposition begegnet» sei. Es geht auch um den Ausbau der Frohalpstrasse, der Durchgängigkeit der Speerstrasse, um Wegverbindungen ins Sihltal, um die Durchgängigkeit der Tannenrauchstrasse und den Ausbau der Mutschellenstrasse. Der Quartierverein nahm auch mehrfach Stellung zu Bauprojekten, etwa das Verhindern einer Überbauung der rechtsseitigen Morgentalstrasse (westlich des Altersheims der Ernst-Stiftung noch heute in der Freihaltezone), oder um ein Projekt zwischen Bellaria- und Scheideggstrasse (damals verhindert, heute überbaut) und viele weitere Projekte.
In der genannten Schrift zum 50jährigen ist auch festgehalten, dass man versuchte, das kleine Wäldchen zwischen Rain- und Tannenrauch-Strasse zu erhalten: «Leider droht durch die Überbauung des kleinen Parkwaldes zwischen Albis- und Rainstrasse der idyllische Bogenweg zu verschwinden, der manchem Fussgänger eine willkommene Abkürzung abseits vom Verkehr geboten hat. Wiederholte Bestrebungen, ihn zu erhalten, blieben umsonst.» Bogenweg? Welcher heutige Wollishofer erinnert sich noch an den Bogenweg, ein Parallelsträsschen zur Albisstrasse zwischen Unter- und Oberdorf, heute kreuz und quer überbaut, so dass kein ehemaliges Strässchen mehr erkennbar ist.
Der Bogenweg, einst wohl die einzige Verbindung zwischen Unter- und Oberdorf: zunächst von der Albisstrasse konkurrenziert, dann in den 1940er Jahren aufgehoben.
Ausschnitt aus Stadtplan (1913).
Natürlich befasste sich der Quartierverein auch mit dem öffentlichen Verkehr, mit den Schulen und dem Quartierbüro – Entschuldigung: Quartierbureau – sowie mit Spitalfragen (Triemli), Apotheken, WCs und Strassenbenennungen.
Die Geschichte des Quartiervereins nach 1950 wurde in der Publikation zum 100jährigen Jubiläum aufgearbeitet. Auch in der Phase nach dem 2. Weltkrieg ging es um ähnliche Themen wie zuvor. Um Verkehr, Wohnen, Infrastrukturen. Eine besonders geglückte Aktion war die Rettung des Restaurants Bürgli (siehe BLOG). Dazu schreibt der Bericht: «In einer konzertierten Aktion unter Führung des QVW gelang es 1953/54, die Wirtschaft ‚zum Bürgli‘ zu erhalten, während wenig später der ‚Hirschen‘ mit seinem schönen Saal, in dem während Jahrzehnten alle wichtigen Vereinsanlässe in Wollishofen stattgefunden hatten, nicht gerettet werden konnte.» (vgl. auch hierzu BLOG!) Eine hübsche Auseinandersetzung fand im QV auch über die Architektur der 1965 erstellten neuen Jugendherberge statt: «Mit der Zeit gewöhnten sich die Wollishofer und Wollishoferinnen an das Bauwerk, das zuvor ein erboster Quartierbewohner als ‚Bunker, Gefängnis oder Kaserne bezeichnet hatte.» Gerettet werden konnte das Muggenbühl – in Verbindung mit der einstigen Besitzerfamilie, die das Land seinerzeit der Stadt zu günstigem Preis überlassen hatte.
Erste Frau im Vorstand
Eine wichtige Neuerung gab es 1973, indem im Vorstand des Quartiervereins erstmals eine Frau Einsitz nahm: Susanne Zimmermann, Präsidentin der Damenriege, war die Pionierin! In jenen Jahren diskutierte man engagiert über den zunehmenden Verkehr und über die Zukunft der Roten Fabrik (vgl. BLOG!). Einige Kämpfe um Baudenkmäler Wollishofens wurden damals ausgefochten, viele davon verloren. So wurde das einstige Zentrum des Oberdorfs (Alte Kalchbühlstrasse) in mehreren Schritten abgerissen: das alte ehemalige Gemeindehaus ebenso wie das Lavater- bzw. Weberhaus. Epische Diskussionen wurden über neue Verkehrsführungen geführt, insbesondere die Verhältnisse am Morgental waren ein grosses Ärgernis und konnten nicht gelöst werden: Der Bericht spricht von «Ende Feuer am Morgental» und konstatiert, dass die Hoffnung, Einigkeit unter den Betroffenen zu erzielen, sich als Illusion erwiesen habe. Ins Dossier des QV gehörte natürlich auch eine Stellungnahme zum Einschnitt der N3 beim Entlisberg (vgl. BLOG Äntli Fürsi!).
100 Jahre Quartierverein. Zürich 2000. Exemplar des Ortsmuseums.
Damit kommt der Bericht der Gegenwart immer näher! Heute ist der Quartierverein auch nach 120 Jahren immer noch frisch, versucht Anliegen der Bevölkerung aufzunehmen und an der richtigen Stelle der Stadtverwaltung vorzubringen, pflegt den Austausch mit den Vertreter:innen Wollishofens im Gemeinderat und organisiert die 1.-August-Feier (wenn nicht gerade Pandemie herrscht). Nach einer langen Amtszeit übergab Dr. Johannes Schindler den Präsidentenstab an Martin Bürki, der nicht nur auch Vertreter der FDP im Stadtparlament ist, sondern als Berner sogar auch schon die Ehre hatte, das übliche eine Jahr als Gemeinderatspräsident zu amten!
(SB)
Geschichtliche Notizen über Gründung und Tätigkeit des Quartiervereins Wollishofen 1900-1925. Vorstand. Zürich 1926.
50 Jahre Quartierverein Wollishofen. Heinrich Weber-Dressler et al. Zürich 1950.
100 Jahre QVW 1900-2000. Fred Winkler. Zürich 2000.
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