Viele der schönsten Kindheitserinnerungen hängen mit dem Besuch von Läden mit der Mutter, mit dem Einkaufserlebnis, dem Begehren nach Köstlichkeit und Erinnerung an Menschen, an Geruch und Geräusche zusammen. So sandte mir Michel Bosson, Bäckerssohn von der Morgentalstrasse, unlängst eine Ode an die verschwundenen Lädeli in Wollishofen zu, die folgendermassen beginnt:
«1959 bis 1972 in Wollishofen aufgewachsen, lese ich mit grossem Interesse Eure Blogs. Soweit ich das überblicken kann, gab es noch keinen über die Quartierläden und Gewerbe-betriebe, von denen es zu meiner Jugendzeit ja noch zahlreiche gab. Ich denke da an den «Konsi» (Konsumverein Zürich) am oberen Ende der Besenrainstrasse, an die Tante Emma-Läden am unteren Ende derselben und an der Speerstrasse und, vermutlich ebenfalls an der Speerstrasse, eine Metzgerei.»
Auf die weiteren Angaben im Text von Bosson kommen wir gleich noch. Doch zuerst der Verweis auf die «ewige Klage», wonach das Angebot an kleinen, heimeligen Läden immer kleiner werde. So schreibt mir Silvia Hartmann: «... und wieder haben zwei Restaurants in Wollishofen die Türen zugemacht. Das bringt mich auf die Idee eines Blogs ‚Lädelisterben‘ (Geschäftsaufgabe) in Wollishofen», worauf über zwanzig verschwundene Läden und Restaurants aufgezählt werden. Frau Hartmann interessiert sich auch immer für den Türgriff Lettenholzstrasse 4, der eine stolze Bretzel zeigt, heute aber nicht in eine Bäckerei führt. Das hat mich dazu bewogen, trotz des längst veröffentlichten Blogs über das Wollishofer Gewerbe im Jahre 1953, mich nochmals mit dem Phänomen «Wandel im Detailhandel» («Lädelisterben») – und vor allem mit den Erinnerungen ans frühere Angebot auseinander zu setzen.
Bill – Bell – Böll
Was sich wie ein Kindervers ausnimmt, ist eine erstaunliche Auswahl einstiger Wollishofer Geschäfte. Bosson schreibt: «Lustigerweise gab es drei Läden mit den Namen Bill (Coiffeur im Morgental), Bell (Metzgerei an der Ecke Mutschellen-/Etzelstrasse) und Böll (Geschäft für Spiel- und Haushaltswaren an der Ecke Albis-/Kalchbühlstrasse).» In der Tat war bis vor wenigen Jahren der Coiffeur an der Albisstrasse 46 ein Gottfried Bill – er wohnte im Nachbarhaus (Albisstrasse 54). Die Metzgerei an der Mutschellenstrasse 197 – heute das Ladenlokal von «Chäs und Brot» – war über lange Jahre eine Filiale der Grossmetzgerei Bell. Das Spielwarengeschäft Böll schliesslich logierte an der Albisstrasse 108 und gehörte Wilhelm Böll-Rottler. Drei recht ähnliche Nachnamen im Wollishofer Spezialitätenangebot über einige Jahrzehnte!
Bell Ladenlokal. Foto Wolf-Bender's Erben 1963. Baugeschichtliches Archiv Zürich.
Die Ode Bossons – oben unterbrochen – soll hier weitergeführt werden. Die Aufzählung erschliesst die Wünsche seiner Kindheit: «Ein weiteres, kleineres Spielwarengeschäft (Schibli) an der Mutschellenstrasse hatte immer begehrenswerte Spielzeugautos im Schaufenster. Gleich zwei Kioske mit den unvergesslichen, durch die Türöffnung betätigten Glocken und dem intensiven Tabakgeruch befanden sich am unteren Ende der Albisstrasse gegenüber und zwei weitere an der Ecke Mutschellen-/Etzelstrasse und Ecke Tannenrauch-/Mutschellenstrasse. Abgelaufene Schuhe brachte ich zum Schuhmacher Rödlach im Untergeschoss eines Wohnblocks an der Besenrainstrasse. Mein erstes Fahrrad wurde bei Velo Fretz an der unteren Albisstrasse gekauft und eine kleinere Velomechanikerbude gab es weiter oben, vermutlich im Bereich Albis-/ Lettenholzstrasse. In Letzterer wurden die Reifen mangels Kompressors noch mit einer handbetriebenen Standpumpe aufgepumpt. Unvergessen auch der Blumen Merkli an der Ecke Albis-/ Butzenstrasse, wo ich als Ausläufer mein Taschengeld aufbesserte.»*
Zum Schluss erinnert sich Bosson an die Bäckereien seiner Kindheit: «Bäckereien gab es trotz Migros, Konsi und Läbis noch vier: Brand (untere Albisstrasse), Müessli (Morgental) eine weitere (weiter oben Nähe Albisstrasse) und im Besonderen denke ich natürlich an die Bäckerei / Konditorei Bosson an der Morgentalstrasse, in der ich aufgewachsen bin.» Dass Düfte und Gerüche für unser Erinnern von besonderer Wichtigkeit sind, ist bekannt. Und dass das Süsse der Backstuben als Erinnerung fürs ganze Leben bleibt, ebenso. Schön ist aber, dass auch der Tabakgeruch und als akustische Erinnerungshilfe die Ladenglocke im Gedächtnis hängen bleiben…
Auch ans Restaurant Regina erinnert sich Michel, man spürt noch heute die Verantwortung, die der Sohn zu übernehmen hatte: «Da das Restaurant Regina auch Kunde der Bäckerei meiner Eltern war, habe ich als Jugendlicher Anfang der 70er des Öfteren zu Fuss Patisserie in einer ziemlich mühsam zu tragenden, kubusförmigen Metallkiste mit Tragriemen angeliefert.»
Hier noch die Bäckerei-Konditorei Bosson an der Morgentalstrasse 36: Michel war auch oft als Austräger unterwegs. So belieferte die Bäckerei des Vaters nicht nur das Café Peter und das Freieck am Morgental, die der Sohn zu Fuss aufsuchte, sondern mit dem Renault 4 auch die Restaurants Frohalp, Höcklerbrücke und Muggenbühl (vgl. Blog LUSTORTE).
Bäckerei Bosson um 1972 (Foto in Privatbesitz).
Eine besondere Betrachtung möchte ich anhand einer Ansichtskarte machen, die die Albisstrasse vom Morgental aus in den Blick nimmt. Sie zeigt das Restaurant Freieck und eine ganze Zeile kleiner Läden an der Albisstrasse, und vis-a-vis ist noch die Ecke mit der Apotheke Deutsch sichtbar, vor dem die Tramhaltestelle platziert ist – zwei Personen warten auf das nächste Tram.
Wollishofen-Zürich. Partie beim Morgental. Um 1955.
Verlag E. Furter. Sammlung MZ. Nicht gelaufen.
Kopfbau Mutschellenstrasse 197, mit Restaurant Freieck (Baujahr 1899).
Gute Düfte, schöne Süssigkeiten
Ladenzeile Albisstrasse unterhalb Morgental. Um 1955. Ausschnitt.
Eine Konditorei-Bäckerei liegt mit Albisstrasse 40 mitten in dieser speziellen Welt – es war allerdings noch die Konditorei Wieser, erst Mitte der 1950er Jahre kam Anton Müessli von der Konditorei Honold nach Wollishofen und gründete hier sein eigenes Geschäft. Neben der Konditorei ist ein kleines Zigarrenlädeli zu erkennen, damals Wilhelm, später Frau Fischbacher. Dann folgt die Filiale der Waschanstalt Zürich mit dem bekannten Logo. Aus dem Zigarrenlädeli und der Waschanstalt wurde später das Geschäft Augen-Optik Kusenberg&Ammann. Anschliessend, in Albisstrasse 38, folgt auf der Ansichtskarte der Elektriker Radio Meier, später wurde hier die Sparkasse Zürich einquartiert. Weiter rechts erkennt man einen Coiffeursalon (Erne), die Drogerie Metzger sowie im Neubau die Filiale der Zürcher Kantonalbank ZKB.
Kehren wir zur Konditorei Müessli zurück. Sie lag sehr günstig, an der Albisstrasse, nahe an einer Tramstation, direkt beim Morgental. So ergab es sich, dass drei Konditoreien sich hintereinander an diesem Ort folgten: Nach Wieser kam Müessli, nach Müessli die Filiale der Bäckerei Speck (mit den berühmten Speckli). Wollipedia hatte das Glück, eine langjährige Mitarbeiterin der Konditorei Müessli, die zum Schluss ihrer Laufbahn auch noch bei Speck arbeitete, kennenzulernen und ausfragen zu können: «Fräulein» Maria Schneider lebt heute – wie damals – noch immer an der Albisstrasse, wenn heute auch weiter draussen, beim Wollishoferplatz. Sie arbeitete an der Albisstrasse 40 zwischen 1959 und 2000. Wir erfuhren im Gespräch einiges zur kleinen Quartierwelt am Morgental in der genannten Zeitspanne, und wie es einer «Ladentochter» gebürtig von Goldach SG in Zürich Wollishofen erging!
Ladentochter im Familienbetrieb
Maria Schneider wuchs in einer grossen Familie am Bodensee auf. Knapp 20jährig verliess sie ihr Elternhaus und wanderte nach Zürich aus! Sie hatte sich auf eine Stelle als Ladentochter im Familienbetrieb von Anton und Maria Müessli-Aepli, der Konditorei beim Morgental in Wollishofen gemeldet und diese erhalten. Im klassischen Gewerbebetrieb war sie aber nicht nur als Verkäuferin tätig, sondern erhielt schnell Familienanschluss. So half sie überall mit, hütete häufig den Sohn und war unverzichtbare Arbeitskraft beim Backen und Verzieren, beim Vorbereiten und Einpacken. Sie wohnte auch im Hause, lange Zeit in einer Einzimmerwohnung auf der gleichen Etage wie die Müesslis, erst später gab es etwas mehr Privatheit in der Wohnung im 3. Stock.
An einen schriftlichen Arbeitsvertrag erinnert sich Maria Schneider nicht. Zwar war die Arbeit im Laden durch die Öffnungszeiten einigermassen geregelt, aber die sonstige Mitarbeit kannte keine Betriebszeiten. Vor allem in der Weihnachtszeit war es sehr streng. Man arbeitete täglich fast 24 Stunden, dafür bekam man aber einen rechten Lohn und vor allem viel Dankbarkeit und Anerkennung! Auch am Sonntag war der Laden noch geöffnet: Öffnungszeiten 10:30-13 Uhr und 15:30-18 Uhr. Die Stimmung war gut, man war zufrieden mit Leben und Arbeit! Das strahlte auch aus.
Zweimal gab es im Quartierblatt Zürich 2 ein Porträt von ihr, zunächst 1984 zum 25jährigen Dienstjubiläum, dann im Sommer 2000 anlässlich ihrer Pensionierung – die letzten Jahre war sie Verkäuferin bei Speck, der Bäckerei aus Oerlikon!
Maria Schneider mit Müessli jun. Foto aus Zürich 2 (9.3.2000)
Und die Lettenholzstrasse?
Eine Pendenz habe ich noch: Zurück zur Lettenholzstrasse 4! Die Bretzel auf Türgriff stammt tatsächlich von einer verlorenen Bäckerei: Über Jahrzehnte konnte man in der Bäckerei-Konditorei von Gottlieb Suter nicht nur Brot, sondern eben auch Süssigkeiten kaufen. Das Gebäude gehörte der Familie, der Vater war in der Zunft Wollishofen, ebenso wie der Sohn Ernst, der später das Geschäft übernahm. Heute erinnert nur noch die Türe an die einstige Herrlichkeit, das Ladenlokal selber wird nicht mehr als solches genutzt.
Türgriff mit Bretzel an der Lettenholzstrasse 4. Foto SB (13.12.2022).
Einmal mehr: tempi passati!
Ich danke Silvia Hartmann, Maria Schneider und Michel Bosson herzlich für Anregungen und Mitwirken!
(Sebastian Brändli)
* Die erwähnten Geschäfte: Schibli & Co. Mutschellenstrasse 154. Fabrikation und Verkauf von Gummiwalzen (für Schreibmaschinen); Zigarrengeschäfte in Wollishofen (1968): Erwin Eppler, Albisstrasse 10; Wwe Anna Müller, Seestrasse 297; Frau L. Fischbacher, Albisstrasse 40; Fritz Rothmund, Albisstrasse 106; Anton Ulrich, Mutschellenstrasse 93; Hans Essig, Alte Kalchbühlstrasse 23; Ernst Rödlach-Ladandy, Schuhmachermeister, Besenrainstrasse 28; Willy Fretz-Wenk. Velohdlg. Albisstrasse 10; wohl Hans Weber, Alte Kalchbühlstrasse, Velohandlung; Blumenmerkli: J. Merkli, Albisstrasse 76.
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