Wie der Ordner ins Ortsmuseum kam, ist unbekannt. Walter Hollinger zeigt mir einen verstaubten kleinen grau-melierten Ordner, unbeschriftet, aber mit einem Foto verziert, ausgeschnitten aus einer schwarz-weiss Illustrierten. Auf dem Foto sind vier Wollishofer Lichtkläuse abgebildet.
Der Ordner war mit allergrösster Wahrscheinlichkeit im Gebrauch und im Besitze von Dr. Emil Stauber, Primarlehrer in Wollishofen, Erfinder und Promotor des langjährigen Wollishofer Brauchs der Lichtkläuse. Im Ordner sind zahlreiche Dokumente eingereiht – Fotos, ausgeschnittene Artikel, aber auch Handschriften. Es handelt sich sicher um die umfassendste Dokumentation zum Wollishofer Brauch. Diesem Brauch und seiner Überlieferung einen Blogbeitrag zu widmen, ist wollipedia eine Ehre!
Ordner von Dr. Emil Stauber (Dokumentation über die Lichtkläuse). Ortsmuseum.
Emil Stauber (1869-1952) haben wir im Blogbeitrag zu den Wollishofer Geschichtspionieren bereits kennen gelernt. Seine Ortsgeschichte «Alt-Wollishofen» entstand zwar als eine Auftragsarbeit für den Quartierverein, Stauber war als promovierter Historiker und erfahrener Lokalgeschichtler, der in Wollishofen als Lehrer tätig war, aber die richtige Person, um sowohl den Erwartungen des Auftraggebers als auch den Standards der Wissenschaft Genüge zu tun. Er kannte die gängige historische Methode seiner Zeit, er kannte den Stand der Forschung, er kannte die Archive – vor allem das Staats- und das Stadtarchiv – bestens, und er verfügte über ein ausgezeichnetes Netzwerk in der «Community» (wie wir heute zu sagen pflegen). Obwohl in seinem Fach promoviert, blieb Stauber bewusst «einfacher» Lehrer. Nach dem Abschluss des Seminars Küsnacht unterrichtete er zuerst im Norden des Kantons als Primarlehrer, in Ellikon und in Winterthur-Töss. 1909 kam er nach Wollishofen, wo er im Hans-Asper Schulhaus unterrichtete und an der Rainstrasse 30 wohnte.
Dr. Emil Stauber. Aus: Zürcher Taschenbuch auf das Jahr 1954.
In diesem Blog soll nun eine Spezialbegabung von Stauber im Mittelpunkt stehen: Stauber nutzte die Heimatkunde der Volksschule zu pädagogischen, staatsbürgerlichen und patriotischen Zwecken. Damit war er nicht allein, viele Lehrpersonen jener Jahre dachten ähnlich und handelten danach; für viele stand die Ortsgeschichte ihres Wirkungsortes im Vordergrund, für viele war es aber auch die Volkskunde – das Brauchtum. Stauber verfasste anfangs der 1920er Jahre eine zweiteilige Studie über «Zürcher Volksbräuche», die als Neujahrsblätter der Hilfsgesellschaft erschienen (auf die Jahre 1922 und 1924). Und diese Beschäftigung sollte zum Kronjuwel seiner pädagogischen Bemühungen werden.
Stauber war eben ein Sonderfall. Sein Einsatz war grenzenlos, für seine «private» Forschungstätigkeit ebenso wie für die Begeisterung seiner Schülerinnen und Schüler für die «Realien». Aushängeschild seiner Bemühungen um aktiven Realienunterricht wurde seine Erfindung der «Wollishofer Lichtkläuse». Stauber selber sprach zwar von «Wiedereinführung» derselben, blieb den Beweis einer früheren, spezifisch Wollishofer Brauchform aber schuldig. Dennoch ist der pädagogische und bildungspolitische Wert dieser Aktivitäten für die Realiendidaktik unbestritten. Die Aktivierung der Ziele des Fachs Realien durch Integration eines solchen Projekts in viele andere Fächer, vor allem ins Werken und die Kartonage, würde auch im heutigen Kompetenzenmodell des Lehrplans 21 Furore machen und kann sich so immer noch sehen lassen. Und in einigen Aspekten sind auch Parallelen zum heute viel gelobten Hans Witzig, seinerseits Lehrer und Gestalter (Künstler, Grafiker, Illustrator, Geschichtsdidaktiker), zu sehen.*
Lichtkläuse um 1940. Foto: Ed. Labhart. Ortsmuseum (Ordner Lichtkläuse).
Die pädagogische und fachdidaktische Idee des Lichtklaus-Projekts ist das eine, die Positionierung und Veröffentlichung – um nicht zu sagen: Vermarktung – das andere. In beiden Bereichen war Stauber ein Meister. Er zog nicht nur eine eigentliche «Produktionsmaschinerie» für die kartonagisierenden Buben hoch, die über längere Zeit eine jährliche Durchführung ermöglichte (von 1920 bis hin ins Jahr 1951, als Stauber als 82jähriger noch immer verantwortlicher «Chef de programme» war). Er schuf auch ein Netzwerk Gleichgesinnter in anderen Quartieren und Gemeinden**, und er hielt enge Beziehungen zu den Zürcher Medien. Im besagten Ordner befinden sich – fein säuberlich ausgeschnitten und eingeklebt – Medienberichte von 1923 bis 1946; vor allem die Neue Zürcher Zeitung brachte das Thema regelmässig, insbesondere als es gelang, die Wollishofer Lichtkläuse nicht nur im Stammquartier, sondern auch in der Altstadt patrouillieren zu lassen – natürlich bis auf den Lindenhof. Doch neben der NZZ gab es auch Berichte im Tages-Anzeiger, in den Neuen Zürcher Nachrichten NZN, in den «Nachrichten vom Zürichsee», im «Schweizerischen Volksblatt vom Bachtel», im Zofinger Tagblatt usw. Auch der Röstigraben konnte überwunden werden, indem 1932 ein Bericht in der Gazette de Lausanne erschien. Den PR-Vogel abgeschossen hat indessen ein kleiner Bericht mit Foto in der Münchner Illustrierten Presse, unter dem Titel «Ein alter Weihnachtsbrauch in der Schweiz» (No. 50, 1932). Wie der Export nach München gelang, ist nicht überliefert; das Foto erhielten die Bayern aber über die «Presse-Dienst A.G.», was bedeutet, dass es Stauber gelang, ein Foto seines Umzuges dieser Agentur unterzujubeln.
Im Ordner ebenfalls archiviert ist eine besondere Anekdote in der Lichtklausen-Geschichte. Es war Stauber von Beginn weg ein Anliegen, dass der Wollishofer Umzug auch Licht in die Zürcher Altstadt bringen durfte. Er bemühte sich um eine Bewilligung, die er erhielt und im Ordner archivierte:
Polizeibewilligung vom 3. 12.1926 für Umzug (70-80 Knaben und Mädchen) mit Marschroute und weiteren Vorschriften (Ausschnitt). Ortsmuseum (Ordner Lichtkläuse).
Stauber bezahlte an Gebühren 3 Franken, von 1928 ist eine zweite Bewilligung erhalten – diesmal an den Sekundarlehrer-Kollegen Jakob Knecht; sie kostete 4 Franken. Dass jedes Jahr eine Bewilligung eingeholt werden musste, die finanziell durchaus ins Gewicht fiel, führte auch zu Kritik. Ob Stauber mit jenem NZZ-Redaktor «F.B.» Kontakt hatte, der sich am 22.12.1935 mit einem Foto des Lichtklaus-Umzuges beim Lindenhof kritisch zu Wort meldete, ist nicht belegt, aber anzunehmen. Jedenfalls kritisierte F.B. die unterdessen eingeführte «Gebühr für die Benützung öffentlichen Grundes» von Fr. 9.50 und argumentierte grundrechtlich: «Wer unter den Freunden gesunden Brauchtums verhilft uns zum freien Recht auf die Strasse am 6. Dezember?»
Ein Problem entstand 1927, als sich ein Knabe in der Enge als Gabensammler im Dienste des Umzugs ausgab und von Passanten Geld einforderte. Stauber entschuldigte sich öffentlich für diesen Unfug und versprach Abhilfe (Tages-Anzeiger vom 7.12.1927).
Wie erwähnt, blieb Stauber seiner Idee lebenslänglich verbunden. Er musste aber gegen Ende seiner Laufbahn feststellen, dass die Welt eine andere geworden war. Am 13. November 1946 brachte die NZZ unter dem Titel «Die mit Recht grollenden Kläuse» die Meldung, dass die Wollishofer dieses Jahr nicht in die Altstadt zögen, sondern im Quartier bleiben würden. Was war geschehen? «Die Ursache dieser Massnahme», argumentierte die NZZ, «liegt in der spöttischen Ablehnung der Anregung im Gemeinderat, durch einen Beitrag der Stadt den Klausenumzug auch für die Zukunft zu erhalten.» Gegen den Antrag war Otto Schütz, der unbestrittene Chef der Zürcher Sozialdemokraten und Gewerkschafter, angetreten; mit den 55 linken Stimmen und vielen bürgerlichen Enthaltungen wurde das Geschäft abgelehnt.
Für die Organisatoren und Initianten war das ein herber Schlag. Sie, die seit 25 Jahren mit grossem Idealismus und Arbeitsaufwand im Rahmen der Schule für die Öffentlichkeit eine Samichlaus-Gabe darboten, erhielten im rauhen politischen Nachkriegsklima eine Ohrfeige. Zwar stellte sich die NZZ klar hinter den Antrag und damit hinter Stauber, und auch die Tat doppelte am 5. Dezember scharf nach – und spottete nun ihrerseits gegen den Genossen Schütz, der verantwortlich dafür sei, «dass Wollishofer Arbeiterkinder» «dieses Jahr um ihren Klaussack» kämen. Doch auch ohne parteipolitisches Gezänk dürfte der Vorfall eben auch gezeigt haben, dass sich die Zeiten geändert hatten. Und so überlebten die Wollishofer Lichtkläuse zwar ihren Erfinder, aber in geänderter Form. Gerne erinnert man sich heute an die schönen alten Zeiten, wo die Strassen in der Nacht noch dunkel waren, so dunkel, dass Lichtkläuse, mit Kartonkronen, die von innen mit Kerzen beleuchtet waren, die Herzen zahlreicher Menschen erwärmen konnten. Doch die Entwicklung hin zur schriller und kommerzieller werdenden Weihnachtskultur war nicht aufzuhalten. Das war zwar nicht im Sinne des Genossen Schütz, aber irgendwie hing seine Kritik doch auch damit zusammen. Der Brauch hat sich bis heute erhalten – hier ein Bild vom 6. Dezember 2022:
Lichtkläuse in Wollishofen am 6. Dezember 2022. Foto MZ.
Wie der Stauber'sche Ordner ins Ortsmuseum kam, ist unbekannt. Bekannt ist aber, dass er über Jahrzehnte unbemerkt auf einem hohen Gestell lag. Lange interessierte sich niemand für ihn – obwohl die Ortsgeschichtliche Kommission 2020 sich der Stauber'schen Kläuse erinnerte und ein schönes Neujahrsblatt dazu herausgab.*** Es bleibt dem Blogger zu wünschen, dass der Ordner nun nicht wieder unbemerkt für Jahre verschwindet, sondern Gelegenheiten gesucht werden, die grosse Lebensleistung Staubers für Schule und Geschichte zu würdigen. Er hätte es verdient.
(SB)
* Zu Hans Witzig ist erschienen: Anna Lehninger (Hg.). Vom Schlaraffenland zum Totentanz. Antiquarische Gesellschaft/Chronos. Zürich 2023.
** Belegt sind Lichtklausanlässe der Wipkinger Kläuse 1940 und der Milchbucker Kläuse 1944. Auch in Stäfa war Stauber aktiv, auch dort sind Anlässe belegt.
*** Martin Illi und Raymond Naef. 100 Jahre Wollishofer Kläuse: eine Broschüre des Ortsmuseums Wollishofen zum Jubiläum des Umzugs der Kinder St. Nikolaustag. Zürich 2020.
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