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MUTSCHELLE

Aktualisiert: 13. Nov. 2023

«Mutschelle» ist erklärungsbedürftig.


Schwingt da eine Schelle mit? Ist ein Mutschli, ein kleines Brötli, im Spiel? Wie immer in solchen Fällen, weiss das «Idiotikon» Rat, das Schweizerdeutsche Wörterbuch mit seinen bald 17 Bänden. In Band IV (Spalte 600) finden sich Ausführungen zu «Mutsch» und zu «Mutschelle», die allerdings auch nicht letzte Klarheit bringen. Doch so viel sei hier dazu bemerkt: Die Flurnamen «Mutschellen» in Wollishofen und bei Bremgarten ordnet das Idiotikon nicht der ersten Bedeutung «Semmel oder Brötchen am Neujahrstag» zu, sondern tendiert zur Bedeutung zwei, in der es als Synonym zu «Here-Chäpli» bzw. «Pfaffenhüten» gebraucht wird. Es wird also ein Zusammenhang mit einem Strauch angenommen, den es im betreffenden Gebiet besonders häufig gegeben haben soll. Nichts gewesen mit Brötli und Gebäck, sondern mit Strauch und Garten.


Ende des 18. Jahrhunderts gab es drei Mutschellen-Höfe: eine Vordere, eine Mittlere und eine Hintere Mutschelle. Alle waren auf der Seeseite der Mutschellenstrasse (mit später ungeraden Nummern). Zentrum der Wollishofer Mutschelle war wohl die Mittlere Mutschelle, im 20. Jahrhundert Mutschellenstrasse 167 (sie lag just dort, wo heute die kleine Schürwies-Strasse rechtwinklig von der Mutschellenstrasse abbiegt). Wichtig war auch die Hintere Mutschelle bei der Abzweigung der heutigen Mutschellenstrasse in die Bellariastrasse. Das war früher genau umgekehrt: Die Bellariastrasse gehört zur alten Route von der Stadt über den Albispass zur Innerschweiz (obere alte Landstrasse); die Mutschellenstrasse war von hier weg eine kleine Fussverbindung.


Hier, im Bereich der Mittleren und Hinteren Mutschelle dürften sich die namensgebenden Pfaffenhutsträucher befunden haben. Der Flurname weitete sich bald aus, und das ganze Tälchen, in welchem sich die Mutschellenstrasse heute noch einbettet, wurde mit dem Namen identifiziert, so dass es eben bald neben der Mittleren und der Hinteren auch noch eine Vordere Mutschelle gab (im 20. Jahrhundert bekannt als Handelsgärtnerei Maag, an der Stelle des heutigen Migros-Hochhauses).


Früheste sichere Angaben zu Bewohnern der Mutschellen-Höfe haben wir aus dem Jahr 1634, dem Jahr des ersten Bevölkerungsverzeichnisses Wollishofens. Da erscheinen alte Wollishofer Namen wie Remi und Bleuwler (Bleuler); der Pfarrer notierte 21 Personen in drei Haushalten in sein Verzeichnis.


Die Junker Schmid auf der Mutschelle


Am meisten wissen wir in der frühen Zeit von der Mittleren Mutschelle. Der Hof – eben direkt auf der heutigen Schürwies gelegen – wurde 1644 von Junker Andreas Schmid (1619-1690) erbaut, der Wollishofen bereits durch seinen Vater, der hier mehrere Güter besass, kannte. Stauber* schreibt, dass der Besitzer des Hauses nicht ständig da wohnte, sondern einen Lehenmann – meist einen Wollishofer – zur Bewirtschaftung der Länderei einsetzte; der erste bekannte war ein Hans Jakob Hausheer – ein Vertreter einer alten Wollishofer Familie. Andreas Schmid war nicht nur Stadtbürger und Junker, sondern auch politisch erfolgreich, so versah er während einer Amtszeit das Amt eines Landvogts von Kiburg (ab 1663) – der grössten und wichtigsten Landvogtei im Alten Zürich. Nach seinem Tode ging das Gut an den Sohn Hauptmann Hans Rudolf von Schmid (1650-1722), der offenbar seinen Wohnsitz ganz nach Wollishofen verlegte. Ein Landsitz einer stadtbürgerlichen Familie in einer Ortschaft am See war damals nichts ungewöhnliches, in vielen Dörfern am Zürichsee gab es im Ancien Régime, in der Zeit der Alten Eidgenossenschaft, Landgüter im Besitze von Stadtfamilien, die teils als Bauernhöfe genutzt wurden, teils aber auch Sommer- oder generell Land- und Wohnsitze von städtischen Bürgern waren.


Mittlere Mutschelle. Mutschellenstrasse 167. 1931.

Foto: Tiefbauamt. Baugeschichtliches Archiv Zürich.


Als Pfarrer Schmutz 1746 in Wollishofen seinen Dienst antrat, besuchte er möglichst beförderlich auch die städtischen Pfarreimitglieder, die Bürger der Stadt, die Wohnsitz in Wollishofen hatten – und das waren einige. Auf jeden Fall war auch «Junker Schmid» in der Mutschelle einer der ihren, und Schmutz besuchten den alten Herrn, der damals schon recht schlecht beieinander war. Am Abend notierte er in sein Tagebuch: «Hernach ginge ich in die Mutschelle, und besuchte den Junker Obrist Lieutenant Schmid.» (9. August 1746).


Im Neujahrsblatt der Feuerwerker auf das Jahr 1878, das zwar hauptsächlich von der Militärfamilie Bürkli handelt, lesen wir auf Seite 11:


«Während alle drei Söhne des Obersten Heinrich Bürkli unverehelicht blieben, wurde ihm und seiner Gattin dagegen das Vergnügen zu Theil, die ältere Tochter A. Dorothea sich am 16. October 1698 mit Junker Andreas Schmid verehelichen zu sehen. Die Ehe wurde mit 3 Söhnen und 2 Töchtern gesegnet. Andreas von Schmid macht 1712 den Toggen-burgerkrieg als Oberstlieutenant im Freienamt mit, ward im September 1725 einhellig Achtzehner beim Rüden und starb 1728 als angesehener Mann auf seinem Landsitz zu Wollishofen.»


Die Familie von Schmid verliess die Mittlere Mutschelle kurz nach der Mitte des 18. Jh. Kurze Zeit später wurde das Anwesen verkauft, zunächst erneut an Stadtbürger, später an Wollishofer. Mitte des 19. Jahrhunderts – 1849 – kam ein grosser Teil der Mutschelle auf die Gant; diese fand im «Hirschen» statt. Heinrich Asper verkaufte da sein Anwesen – ein stattliches, klassisches Wollishofer Bauerngut. Um einen breiteren Käuferkreis anzusprechen, erschien im Februar ein Inserat, das auf den 19. April zur Gant einlud. Der Meistbietende sollte erhalten: ein doppeltes Wohnhaus, Scheune und Garten; eine Trotte mit 2 Boden (einer Kammer und einer Schütte); einen Schweinstall sowie zwei Drittel an einem Waschhaus; ein Brennhaus mit Wohnung, Keller und Schütte sowie einen erst 1848 gebauten Wagenschopf! Dazu gehörten noch mehrere «Kirchenörter» – also reservierte Plätze in der Kirche – sowie etwa 20 Jucharten Matten, Äcker, Reben, Obstgärten sowie Waldanteile. War der Verkauf schon das Ende des Bauernlandes Mutschelle?


Als Stauber seine Ortsgeschichte schrieb (1926), war die Mittlere Mutschelle jedenfalls im Besitze eines «Güterhändlers» («Spekulanten»?) namens Gabriel Ortlieb. Für den Bau des Schürwies-Quartiers wurde der zentrale Mutschellenhof in den frühen 1930er Jahren abgerissen; das Strässchen Schürwies existiert seit 1934.


Gruss aus Zürich-Wollishofen (Vordere, Mittlere und Hintere Mutschelle). 1901.

Verlag Fritz Fischer. Sammlung MZ. Gelaufen 30.7.1901.


Früher Ausbau der Mutschellenstrasse


Die Mutschellenstrasse heute ist Wollishofer Kernland. Hier befinden sich – in unmittelbarer Nähe zum Morgental – wichtige Einrichtungen wie Migros, Bank, Blumen, und (wenn auch schon Albisstrasse) Apotheke. Zudem sind auch kleinere Geschäfte wie Uhrmacher und Juwelier, vis-à-vis die Garage Ofner und die Bethel-Kapelle. An der Strasse befindet sich auch die touristisch relevante Institution der Jugendherberge. Das von Architekt Gisel erbaute Gebäude ist ein starker architektonischer Akzent, genau an jenem Ort, wo vor dem Bau des Monuments schon Jugendliche übernachten konnten (allerdings in hässlichen Baracken).


Und die alten Stadtsitze und Bauernhäuser? Ist von ihnen heute nichts mehr zu sehen? Gar nichts mehr? Von den frühneuzeitlichen Mutschellenhäusern ist tatsächlich nichts mehr zu sehen, sie sind vollständig zugunsten der Überbauung Schürwies und des SUISA-Neubaus abgerissen worden. Doch wer genau hinschaut, entdeckt vis-à-vis des SUISA-Gebäudes einzelne ältere Bauten, die zwar nicht als Bauernhäuser anzusprechen sind, die aber ins bäuerliche Wollishofen zurückweisen. Insbesondere die Nummern Mutschellenstrasse 126 und 146 sind städtebaulich noch im 19. Jahrhundert zu verorten; Nummer 126 zum Beispiel wurde 1878 erbaut. Wie kam das? Auf der Seite der geraden Hausnummern standen – wie gesagt – vor 1800 an der Mutschellenstrasse keine Häuser. Das änderte im frühen 19. Jh., indem an der Stelle, wo heute die Nummern 130 und 136 stehen, ein behäbiger Bauernhof gebaut wurde. Das war 1814. Später erhielt das Haus eine Nummer: Mutschellenstrasse 134.


Bauernhof Mutschellenstrasse 134. Um 1910 (ungepflästert).

Foto im Besitze der Besitzerfamilie.


Diesem stattlichen Hof, dem zu Beginn noch über eine Branntweineinrichtung verfügte, war allerdings kein langes Leben beschert. In gewisser Weise war er zu spät errichtet worden. Denn schon kurz nach Mitte des 19. Jahrhunderts nahm die Verstädterung Wollishofens auch an der Mutschellenstrasse rapide überhand. Die dortige Bauernfamilie Schmid (nicht verwandt mit dem frühneuzeitlichen Junkergeschlecht der Mittleren Mutschelle) merkte das, und liess Wohnhäuser auf ihrem Grundstück erbauen, die zimmerweise vermietet werden konnten – sog. «Zimmerhäuser». Die Architektur der Zimmerhäuser ist so konzipiert, dass die Nutzung im Stile einer «Wohngemeinschaft» erfolgt: Bewohner waren alleinstehende Einwohner – Gesellen, Arbeiter und Arbeiterinnen, Dienstmädchen –, die alle ihr eigenes Zimmer hatten, aber die sonstigen Infrastrukturen wie Küche usw. «gemeinsam» nutzten. Noch heute sieht man im Innern des Hauses, das den Namen «Feldegg» erhielt, diese Einteilung. Es wohnt heute allerdings eine Familie im Haus – die Besitzerfamilie, Nachkommen des Urahns Walter Schmid.


Das Haus Feldegg ist ebenso wie die Mutschellenstrasse 146 im Familienbesitz seit sieben Generationen! Als sogenannte «Baumeisterhäuser» sind sie typisch für die letzten Jahre des 19. Jahrhunderts, gleichzeitig sind sie letzte Zeugen der frühneuzeitlichen Mutschelle; der Hof «Zur Mutschelle», Mutschellenstrasse 134, wurde 1965 abgerissen...


Zur Mutschelle. Mutschellenstrasse 134 und 126 sowie (rechts) 143. Mittig Thujastr. 17.

1928. Baugeschichtliches Archiv Zürich.


Das Haus «Feldegg» Mutschellenstrasse 126 heute. Foto S. Brändli (17.04.2021).


Und nochmals zur Übersicht, eine Aufnahme aus der Luft. Die drei alten Höfe der Mut-schellenstrasse (alle vor 1812) sind auf der rechten Seite: zuvorderst die Vordere, gleich dahinter die Mittlere, und hinten als Quer-Flarzhaus die Hintere Mutschelle. Alle anderen Häuser sind später, im 19. Jahrhundert, erbaut, ausser wenigen des frühen 20. Jahr-hunderts, wie etwa das Tramdepot Möösli, links im Mittelgrund, wohin auch gerade ein Schüttelbecher, das bekannte frühe zweiachsige Zürcher Tram, abbiegt.


Mutschellenstrasse. Ohne Fotograf und Jahr. Baugeschichtliches Archiv Zürich.


(SB)

 

*Emil Stauber. Alt Wollishofen. Zürich 1927, S. 55.

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