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AutorenbildSebastian Brändli

HEBAMMENWAHL

Eine gute Hebamme kann Leben retten. Das ist nicht einfach ein Werbespruch für den ältesten Frauenberuf, sondern auch eine Einsicht, die im Gesundheitswesen vieler Völker Wirkungen zeigte. In der Schweiz der frühen Neuzeit, die politisch generell männlich geprägt war, gab es beispielsweise ein «Amt» Hebamme, und für dieses Amt gab es eine «Frauenwahl»: Es wurden Frauen gewählt – von Frauen. Die Männer hatten zu diesem Thema kaum etwas zu sagen. Für das Gebiet des Alten Zürich gibt es zahlreiche Hinweise auf Hebammenwahlen und gewählte Hebammen.


Aus Wollishofen sind solche aus der gemeinsamen Zeit mit Kilchberg belegt – so wurden Hebammenwahlen im Taufbuch in den Jahren 1676, 1677, 1684 und 1697 verzeichnet (im StAZH E III 62.3). Damals (im 17. Jh.) wurden die Hebammen gewählt – und fertig! Es war keine Ausbildung obligatorisch. Es war aber wohl so, dass die neu gewählte Frau beim Pfarrer vorsprechen musste, der ihr die Pflichten einer Hebamme einschärfte. Jedenfalls ist schon aus dem frühen 16. Jahrhundert für die Zürcher Stadthebammen ein «Hebammen-Eid» überliefert, der auch Wirkungen auf der Landschaft gehabt haben dürfte.


Später, vor allem mit der Revolution 1798 und dem folgenden Neustart Zürichs als «Kanton Zürich» 1803, wurden viele Gesetze geändert. So auch im Hebammenwesen, wo die Regierung, der Kleine Rat, 1809 beschloss, dass «die eigentliche Hebammenkunst» nur von «ordentlich unterrichteten, vom Sanitäts-Collegio geprüften und patentirten Personen ausgeübt» werden dürfe. Auch wurde generell bestimmt: «Jede Weibsperson, sey sie verheyrathet oder unverheyrathet, welche als Hebamme angestellt zu werden wünscht, soll, um gewählt werden zu können, nicht weniger als 20 und nicht mehr als 40 Jahre alt, des Lesens und Schreibens kundig, von guter Gemüthsart und unbescholtenem Rufe seyn, eine gute Fassungskraft, vollkommene Sinnen haben, und nicht schwächlicher Gesundheit, besonders soll das Gefühl des Zeige- und Mittelfingers nicht durch Auswüchse, Verhärtungen oder eine harte Haut abgestumpft seyn.» (§ 4)


Trotz Ausbildungs- und Examensverpflichtung hielt man in der Ordnung aber am Vorschlagsrecht der Gemeinden fest. Aus dieser Zeit ist eine Hebammenwahl in Wollishofen belegt, deren Verlauf besser überliefert ist als sonstige Wahlen. Denn das Protokoll der Wahl von 1813 ist – seltsamerweise – im Protokoll der Bürgerlichen Abendgesellschaft (vgl. Blog) detailliert festgehalten. Nicht nur die Wahl wurde beschrieben, sondern das ganze Drum und Dran, inklusive folgende Festivitäten und Tanz! Auch die Männer dieser Gesellschaft waren offensichtlich stolz auf die stattgehabten Ereignisse.


Hebammenwahl 1813 in Wollishofen


Am 1. Juli 1813 versammelten sich alle Wollishofer Frauen in der Kirche, um eine neue «Spetthebamme» zu wählen; eine «Spetthebamme» war die Aushilfshebamme, oder einfach die zweite Hebamme. Sie folgte in der Regel der Haupthebamme nach deren Ausscheiden – eine Nachwuchsregelung. «Der Pfarrer hielt in Gegenwart des Stillstandes eine passende Anrede», notierte das Protokoll, wobei er auch den Lohn der beiden Hebammen nannte und auf deren Aufgaben hinwies. Über das «Namsen», das Vorschlagen von Kandidatinnen, sagt das Protokoll nichts, auch nichts über eine allfällige Diskussion. Es wird einfach berichtet, dass die Wahl durch «Pfenniglegen» geschah – jede Wählende hatte also ihre Münze in eine der beiden «Trucken» zu legen. Das Resultat war sonnenklar: von 83 Stimmenden sprachen sich 71 für Anna Hausheer aus.


Dieses Foto war schon einmal (Kalchbühl) zu sehen. Vier brave Häuser in Reih und Glied.

Rechts das Gemeinde- und Wirtshaus, Kalchbühlstr. 13,

wo auch die Feier zur Hebammenwahl stattfand.

Fotograf: Eduard Steimle (Stauber, Tafel 39.1).


Nach erfolgter Wahl ging die ganze Gesellschaft aus der Kirche ins Wirtshaus, also ins Gemeindehaus. Emil Stauber, der das Ganze auch berichtet, schreibt, dass «ausserhalb der Kirche alles freundschaftlich und gesprächig» geworden sei (Stauber S. 31). Die Musik sei auf der Strasse entgegen gekommen und die Knaben hätten dazu «wacker» geschossen. Das Protokoll berichtet weiter: «Mit einem Male wurde das Wirtshaus mit Weibern angefüllt. Sobald jede Platz genommen, ging es an den Tanz; junge Weiber machten sich auf, traten in das Vorgesetzten-Zimmer und nahmen die Vorgesetzten zum Tanz, woran alle, der Pfarrer, Schulmeister und ein Hausheer ausgenommen, teilnahmen. Das geordnete Abendessen wurde nebst mehrerem so in Freude und Lustbarkeit genossen, dass man sich keinen Begriff davon machen kann. Am Abend kamen viele Männer, gesellten sich zu den Weibern und tanzten die ganze Nacht bis morgens 7 Uhr. Herr Pfarrer und Frau waren schon um 8 Uhr fortgereist (sie wohnten in der Stadt). Dieser Akt wurde mit so viel Anstand und ohne das mindeste Ärgernis und so viel Lustbarkeit begangen, dass jedermann Freude darüber bezeugte.»


Neue Zeit, neue Kultur


Das Protokoll ist ein Paradebeispiel für die neue Denkart und das neue Selbstgefühl der Zeit um 1800. Denn solche Festivitäten, wie sie beschrieben sind, wären im Alten Zürich wenn nicht unmöglich, dann aber doch sehr umstritten gewesen. Das väterliche Regiment des Zürcher Rates hätte solches nicht geduldet und mit Hilfe der orthodoxen Pfarrer sicher zu unterdrücken gewusst. Nicht dass das immer geklappt hätte, aber 1813 war zweierlei neu: Einmal der Umstand, dass sich die Dorfelite im Rahmen der Bürgerlichen Abendgesellschaft mit dem Thema befasste und das ganze Treiben letztlich zustimmend kommentierte. Dann aber zum Zweiten, dass es gelang, trotz aller «Lustbarkeit» Disziplin und Ordnung zu wahren. Dafür spricht das Fazit: «Dieser Akt wurde mit so viel Anstand und ohne das mindeste Ärgernis und so viel Lustbarkeit begangen, dass jedermann Freude darüber bezeugte.»


Die Erinnerung an die ausgelassene Feier blieb noch lange wach. Nicht nur Emil Stauber bezog sich 1926 auf sie, sondern auch später. So war in der Zeitung «Die Tat» 1958, als es um das 160jährige Jubiläum der Lesegesellschaft ging, zu lesen, dass die Protokolle der Gesellschaft auch «die Wahl einer Staatshebamme durch die Wollishofer Frauen samt den das Ereignis krönenden Lustbarkeiten» beschreiben würden – wobei der Begriff «Staatshebamme» vom Journalisten falsch gewählt wurde, denn die Regulierung des Hebammenwesens durch die Regierungen von Mediation und Restauration führten zu geregelter Ausbildung und einer Basisfinanzierung durch «Wartgelder», nicht aber zu «Staatshebammen».


Waren Hebammen Vorbotinnen der neuen Zeit? Ja und nein. Nein, weil es Hebammen im Alten Zürich schon immer gab, ja, weil es Hebammen schon in viel früherer Zeit gegeben hatte, und die Zürcher Herrschaft diese beruflich-fachliche Position für Frauen einfach übernahm und schon früh legimierte – etwa durch den bekannten Spitalarzt Jakob Rueff, der im 16. Jahrhundert lebte, im Jahre 1588 ein «Hebammen-Büchlein» herausgab und das Hebammenwesen erneuerte. Dennoch auch Ja. Denn in der Zeit, als sich die Medizin auf dem Land vom Handwerksfach zur akademischen Profession mauserte, änderte sich auch für die Hebamme manches. Die Feier 1813 zur Hebammenwahl kann auch unter diesen Aspekten als Teil der Neukonzipierung des Hebammenberufs, als Teil einer emanzipativen Bewegung für wichtige gesellschaftliche Positionen, die auch Frauen – oder nur Frauen – offenstand, gesehen werden.


Interessant in diesem Zusammenhang ist ein Detail: In den Staatssteuerbüchern der Gemeinde Wollishofen (ab 1832) finden sich nur Hausvorstände, also Männer, als Steuerpflichtige. Ausnahme waren Witwen, die einem Haushalt vorstanden. Und eben: die Hebamme. Barbara Hausheer, die in den 1830er Jahren das Amt versah, war verheiratet, zahlte aber von ihren Einkünften als unabhängige Person, als Steuersubjekt, Steuern. Der Betrag von 2 Batzen mag klein wirken. Das ist aber nicht der Punkt, der Punkt ist: die Steuerpflicht zeigt eine Gleichheit vor dem Gesetz, die den Frauen in fast allen anderen Aspekten nicht zugestanden wurde. In diesem Sinne waren Hebammen eben doch Vorbotinnen einer neuen Zeit.



Sebastian Brändli



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