Aufmerksame Blog-Leserinnen und -Leser haben bemerkt, dass es dem Historiker Brändli Adrenalin ausschüttet, wenn es um die Zeit um 1800 geht. Daran denkend, dass ein älterer Blog «Wollishofen um 1900» hiess, versuche ich im Folgenden ein Gleiches mit der Zeitenwende um 1800. Weltgeschichtlich wäre das Stichwort «Französische Revolution», oder noch näher am Millenium, «Napoleon». Schweizergeschichtlich ist es das Jahr 1798 mit dem Start der «Helvetischen Republik», epochenmässig die «Helvetik» (1798-1803).
Helvetik und Helvetische Republik
Als die französischen Truppen von Westen her in das Gebiet der Alten Eidgenossenschaft, der «Acht Alten Orte» eindrangen, um am 5. März 1798 die Berner Truppen zu besiegen, witterten die Neuerer im Lande Morgenluft – und von denen hatte es viele auf der Zürcher Landschaft. Die Gefangenen des Stäfner Handels (1795) wurden befreit, die Regierung in Zürich trat zurück, es wurde eine Übergangsregierung gebildet. Eigentlich eine richtige Revolution! Wichtigste Änderung war eine (neue) «helvetischen Verfassung», die allerdings von den französischen Besetzern diktiert wurde. Immerhin brachte sie Gleichheit der Bürger und Freiheit für alle; an einer «Urversammlung» stimmten die Wollishofer der neuen Verfassung am 29. März 1798 zu.
Helvetischer Senator in Amtstracht, gezeichnet von Johann Heinrich Lips. ZB Zürich.*
In der neuen Hauptstadt Aarau traten im Mai 1798 die neugewählten Behörden zusammen – Parlament und Regierung, wobei das Parlament aus zwei Kammern bestand, dem Senat und dem Grossen Rat. Diese Vertreter des Volkes wurden durch politische Versammlungen in den Kantonen erkoren: Jeder Kanton hatte acht Grossräte und vier Senatoren zugute. In Zürich fiel die Wahl dabei hauptsächlich auf politische Neuerer, die man «Patrioten» nannte. Ein Wollishofer war nicht dabei.
Im ersten linksufrigen Bauerndorf vor der Stadt, änderte sich aber sonst viel. Es wurde ein Freiheitsbaum errichtet, die Herrschaft der Stadt mitsamt der Obervogtei aufgehoben. Es konstituierte sich die Gemeinde – mit einem «Munizipalität» genannten Vorstand –, und es fand Politik statt. Es wurden Versammlungen einberufen, frei gewählt, ohne Auftrag von oben – etwas, was es im Ancien Régime nie gegeben hätte. Und: Man wählte seine «Munizipalität», selber. Als Präsident wurde der Seidenfabrikant Heinrich Honegger, wohnhaft an der Alten Landstrasse (gemäss heutiger Numerierung Kilchbergstrasse 62) bestimmt. Dazu gab es noch einen «Agenten», einen Dorfvorsteher, der von der Regierung – von oben – ernannt wurde. Dieses Amt wurde Hans Jakob Hausheer übertragen.
Die erwachende Zivilgesellschaft: die bürgerliche Abendgesellschaft
Im Frühjahr 1798 erwachte auch die Zivilgesellschaft. Im Mai wurde die Bürgerliche Abendgesellschaft gegründet: Fünfzehn ehrbare Wollishofer Männer schlossen sich in Freundschaft für eine bessere vernünftigere Zukunft zusammen (vgl. Blog Bürgerliche Abendgesellschaft). Hier sollen die 15 Männer aufgezählt und kurz skizziert werden. 1798 waren als Gründungsmitglieder dabei:
Bürger Hs Kaspar Asper in der Mutschälen
Bürger Jacob Hausheer, Abschied 1804
Bürger Hans Rudolf Burckhart
Bürger Jacob Schwarzenbach, Abschied 1799
Bürger Chirurgus Hausheer
Bürger Jacob Hausheer, Erdbrust, Abschied 1802
Bürger Chirurgus Schreiber
Bürger Johannes Bleuler, Abschied 1810
Bürger Hans Heinrich Honegger
Bürger Jacob Näff, Abschied 1811
Bürger Johannes Horner
Bürger Kaspar Hausheer im Läh
Bürger Felix Hausheer
Bürger Johannes Asper
Bürger Hans Kaspar Weber, Abschied 1806
Von den fünfzehn Bürgern blieben deren neun die ersten 15 Jahre bei der Gesellschaft, bereits 1800 wurden erste Neuaufnahmen gemacht, es scheint, dass 15 als Soll des Gesellschaftsbestandes angesehen wurde. Nicht alle der Gründungsmannschaft können genauer erfasst werden, aber es ist schon so, dass es vor allem die Ehrbarkeit, die Gruppe der politisch einflussreichen Familien, war, die den Kern der Gesellschaft ausmachte. Dazu gehörten auf jeden Fall Landwirt Kaspar Asper (er war «Armenpfleger»), Seidenfabrikant und Munizipalitätspräsident Heinrich Honegger sowie Johannes Horner, Alt-Untervogt. Auch die Mitgliedschaft der beiden «Chirurgen», Landärzte, weist darauf hin, dass sich die intellektuelle Elite versammelt hatte. Nicht jeder, der aufgenommen wurde, erfüllte die hohen Ansprüche der Gesellschaft – das zeigen die doch recht häufigen Austritte («Abschiede»). Besonders hart war der Abschied von Jacob Näf, dem Besitzer des Hauses zur Hoffnung. Er war Sohn eines recht erfolgreichen, aber früh verstorbenen Chirurgen; als er 1811 als Aktuar gewählt wurde, überforderte ihn die Aufgabe, und er musste die Gesellschaft im Unfrieden verlassen! – Interessant ist, dass der Pfarrer der Gemeinde, der ja sicher zu den Intellektuellen gehört hätte, nicht mit von der Partie war.
Prospect von Wollishofen, Erdbrunst, Ausschnitt. Um 1770.
Oberhalb des Rebberges das stattliche Haus des Landwirts und Seidenfabrikants Honegger. Tuschzeichnung von Johann Jakob Hofmann. Faksimile.**
Soziologie bzw. Topologie der Dorfgenossen
Betrachtet man die Liste, so fällt auf, dass gewisse Geschlechter mit mehreren Familienvorständen in der Gesellschaft Platz fanden. Das zeigt einerseits, dass die Ehrbarkeit stark von einzelnen Familien dominiert wurde – vor allem Hausheer und Asper. Diese Aufnahmen führten aber auch zur Problematik, Männer gleichen Namens unterscheiden zu können. Im Protokoll hielt man es deshalb bald so, den Familiennamen mit einer Nummer, der Nummer des Haushalts im Rahmen der Dorftopografie, zu ergänzen. Wie diese «Dorfstruktur» entstand, wissen wir nicht, in anderen Dörfern der Zürcher Landschaft kam diese Praxis erst später auf, mit der Einführung von Assekuranznummern (nach 1812). In Wollishofen scheint indes die Reihenfolge der Haushalte schon früher festgelegt worden zu sein. Möglich ist, dass der Pfarrer, der die Haushaltsverzeichnisse zu führen hatte, seine Schäfchen zwecks Aktualisierung der Angaben stets in der gleichen Reihenfolge besuchte. Dieser Dorfumgang führt im Kreis herum, berührt aber alle 95 Haushalte. Er beginnt bei Nummer 1, dem Hof Honrain, und führt letztlich zur Nummer 95, dem Hof auf Asp. Der Dorfumgang führt also vom stadtnächsten Hof am See dem Ufer entlang über die untere Erdbrust und übers Kloster zum Horn, um dann auf halber Höhe zurückzukehren zum oberen Teil Erdbrust, über die Kirche zum Unter- und zum Oberdorf, sodann über Rain zur Mutschelle, zum Muggenbühl und zum Asphof. Damit war der Rundgang durchs Dorf abgeschlossen; man befand sich ja wieder in unmittelbarer Nähe zu Nummer 1, zum Hof Honrain, zum Ausgangspunkt.
Wildkarte (um 1840), Ausschnitt Wollishofen. Eintragung Dorfumgang in Lila (SB).
Diese Struktur kann dank eines Steuerbezugs im Jahre 1800 (als die Helvetische Republik versuchte, mittels einer Vermögensabgabe ihrer Bürger die chronische Unterfinanzierung zu lösen) auch wirtschaftlich etwas unterfüttert werden. Die Steuerlisten 1800 sind im Staatsarchiv erhalten. Leider beachten sie aber die Reihenfolge des Dorfumganges nicht, sodass eine vollständige Identifizierung aller Steuerzahler nicht möglich ist. Gleichwohl können einzelne – vor allem vermögende – Familienvorstände erkannt und in ihrer wirtschaftlichen Potenz positioniert werden.
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Die Helvetik als Periode der Schweizergeschichte wurde lange Zeit unterschätzt. Im Prinzip ist die Helvetische Republik aber der Ursprung der modernen Schweiz, in vielem Vorbild für den Bundesstaat – auch wenn es nicht gelang, die hochgesteckten Ziele auch nur annähernd zu erreichen. Nach fünf Jahren heftiger politischer Kämpfe kehrte man 1803 – durch Napoleon vermittelt – zu einem staatlichen Zustand zurück, der zwar einige helvetische Neuerungen beibehielt, in vielen andern Aspekten aber zum vorrevolutionären Zustand zurückkehrte. Mit dieser Rückkehr verbunden war im Raume Zürich die Schaffung des modernen Kantons Zürich mit Gleichheit von Stadt und Land. Und für Wollishofen bedeutete 1803 die Schaffung eine eigenständigen Gemeinde im neuen Kanton Zürich.
(SB)
* Übernommen aus Sebastian Brändli. Johannes und Hans Kaspar Näf von Hausen. Hausen 2022.
** Kopiert aus: http://www.villmergerkriege.ch/
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